Mein Amerika: Erinnerungen an eine ganz normale Kindheit
Krispies, Maischips, alles, was unter Druck die Form wahrte –, und von all denen musste man auch etwas nehmen. Aber das wollte man natürlich auch, weil alles so appetitlich aussah. Auf zwei weiteren großen Tischen standen Wannen und Platten mit buttertriefendem Kartoffelpüree, in Baked Beans schwimmendem Speck, Gemüse in Sahnesoße, kleingehackten, scharf gewürzten Eiern, Maisbrot, Muffins, Trumms von Keksen und Krautsalat in einem Dutzend Variationen. Wenn man all das auf den Pappteller gehäuft hatte, wog der zwölf Pfund und sah deutlich postoperativ aus, wie mein Vater immer sagte. Doch den hartnäckigen Überredungskünsten der vielen Mabels konnte man einfach nicht widerstehen.
Die Leute strömten zu diesen Abendessen aus den entferntesten Landstrichen herbei. Die Glaubenszugehörigkeit der Kirche spielte keine Rolle. Alle kamen. In der Stadt waren ohnehin alle Methodisten, selbst die Katholiken. (Nur um es gesagt zu haben: Meine Großeltern waren Lutheraner.) Es ging auch nicht um Religion; es ging um Essen in Gesellschaft und in großen Mengen.
»Vergiss bloß nicht, Platz für den Nachtisch zu lassen«, sagte eine Mabel immer, wenn man mit seinem Teller davontaumelte. Doch daran musste man nicht erinnert werden, denn die Desserts waren fantastisch und berühmt, einfach unübertroffen. Es handelte sich im Wesentlichen um die gleichen Gerichte, wie vorher beschrieben, nur ohne das Fleisch.
An den wenigen Abenden, an denen wir nicht bei einem Gemeindefest waren, vertilgten wir bei meinen Großeltern an einem häufig nach draußen auf den Rasen getragenen Tisch enorme Mahlzeiten. (Damals schien es den Leuten wichtig zu sein, ihr Essen mit so vielen Insekten wie möglich zu teilen.) Onkel Dee war natürlich da, der vor sich hin rülpste, und Onkel Jack aus Wapello, der bekannt dafür war, dass er es nie schaffte, einen Satz zu beenden.
»Ich sag euch, was sie machen sollten«, sagte er mitten in einer angeregten Diskussion, und dann warf jemand Durchsetzungsfähigeres einen Kommentar dazwischen, und nie bekam man zu hören, was Jack meinte. »Also, wenn ihr mich fragt«, sagte er, aber niemand fragte ihn. Meist saßen sie herum und redeten über chirurgische Eingriffe und alle möglichen Gebrechen – Kröpfe, Gallensteine, Hexenschüsse, Ischias, Wasser im Knie –, die es heute offenbar nicht mehr gibt. Die Leute kamen mir immer sehr alt und langsam vor und so froh, wenn sie sich hinsetzen konnten.
Aber was waren sie gutmütig. Wenn jemand von außerhalb des üblichen Familienkreises zu Besuch war, brachte immer einer das Tröpfelglas und bot ihm etwas zu trinken an. Das Tröpfelglas war das Witzigste, das ich je gesehen hatte. Es war ein schickes, geschliffenes Trinkglas mit vielen Facetten – eben ein Glas, wie man es einem Ehrengast geben würde – und wirkte völlig normal. Es war auch völlig normal, solange man es nicht schräg hielt. Denn in die Facetten waren in einem so genialen Winkel winzige, unsichtbare Spalten geschnitten, dass jedes Mal, wenn das Opfer das Glas zum Mund führte, ein Gutteil des Inhalts in stetem Fluss auf seine Brust tröpfelte.
Aus irgendeinem Grunde war es immer wieder unbeschreiblich lustig zu beobachten, wie sich ein unschuldiger, nichts ahnender Mensch wiederholt mit Cranberrysaft oder Kirsch-Kool-Aid begoss (es war stets etwas Knallbuntes) und zwölf Leute mit vollkommen nüchternen, gefassten Mienen zuschauten. Wenn der Genasführte endlich die versickernde Flüssigkeit spürte, schaute er nach unten und rief: »Ach, herrjemine!«, und alle brachen lauthals in Lachen aus.
Ich habe nie erlebt, dass jemand wütend wurde oder sich entsetzte, wenn er merkte, was ihm da für ein Streich gespielt worden war. Das beste weiße Hemd war ruiniert, man sah aus, als sei einem ein Messer in die Brust gestoßen worden, und die Zuschauer lachten, bis ihnen die Tränen kamen. Herrje, was waren die Leute in Iowa glückliche Menschen.
In Winfield war auch das Wetter immer interessanter als sonstwo. Es war stets heißer, kälter, windiger, lauter, schwüler, ärger und entschiedener. Selbst wenn es eigentlich gar nichts tat, wenn es an einem Augustnachmittag nur schwül, schlaff und still war, war es schwüler und schlaffer als irgendwo sonst, wo man je gewesen war, und so still, dass man aus einem Haus auf der anderen Straßenseite die Uhr ticken hörte.
Weil Iowa völlig platt ist und meine Großeltern ganz am Rande der Stadt wohnten, sah man meteorologische Phänomene
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