Mein Amerika: Erinnerungen an eine ganz normale Kindheit
lange, bevor sie da waren. Gewaltige majestätische Stürme erhellten den Himmel im Westen oft schon zwei oder drei Stunden, bevor die ersten Regentropfen in Winfield fielen. Man redet ja immer über hohe, weite Himmel im Westen der USA (und sie sind ja auch sicher hoch und weit), doch dann hat man noch nie solche hoch sich auftürmenden Ambosswolken wie in Iowa im Juli gesehen.
Die größte Naturgewalt in Iowa – im Mittleren Westen – sind natürlich die Tornados. Man sieht Tornados nicht oft, weil sie eher schnell vorüber und lokal begrenzt sind und oft nachts kommen, so dass man im Bett liegt, der wilden Raserei draußen lauscht und ganz genau weiß, dass der Ausläufer eines Tornados jederzeit herunterlangen und einen mitsamt der ruhigen Behaglichkeit in tausend Stücke zerschlagen könnte. Als meine Großeltern einmal im Bett lagen, hörten sie ein lautes Brummen direkt an ihrem Haus vorbeiziehen – wie von einer Milliarde Hornissen, erzählte mein Großvater. Er stand auf, lugte aus dem Schlafzimmerfenster, konnte aber nichts erkennen und legte sich wieder hin. Und das Geräusch verstummte dann auch schlagartig.
Als er morgens vors Haus trat, um die Zeitung zu holen, sah er zu seiner Überraschung, dass sein Auto im Freien stand. Dabei war er überzeugt, dass er es am Vorabend wie üblich weggestellt hatte. Dann begriff er, dass er zwar das Auto wie üblich weggestellt hatte, aber die Garage nicht mehr da war. Das Auto stand auf deren Betonboden. Ohne einen Kratzer. Von der Garage ward nichts wieder gesehen. Und als mein Großvater genauer hinschaute, entdeckte er eine Schneise der Zerstörung, die an einer Seite des Hauses entlanglief. Die Büsche aus einem Beet direkt am Haus vor dem Schlafzimmerfenster waren vollständig herausgerissen, und da wurde ihm klar, dass die Dunkelheit, in die er in der Nacht geschaut hatte, die Wand eines Tornados gewesen war, die auf der anderen Seite der Scheibe vorbeizog, nur drei, vier Zentimeter vor seiner Nase.
Ich sah in meiner Kindheit nur einmal einen Tornado. Wie ein Killerapostroph zog er von rechts nach links quer über den weit entfernten Horizont. Er war vielleicht zehn Meilen weit weg und deshalb vergleichsweise ungefährlich. Trotzdem war er unvorstellbar mächtig. Überall war der Himmel unruhig, unnatürlich dunkel, schwer und tief, und jeder Wolkenfetzen aus allen erdenklichen Himmelsrichtungen wurde in den Strudel in der Mitte gesaugt wie in ein schwarzes Loch. Es war, als sei man Zeuge beim Untergang der Welt. Der stetige, starke Wind fühlte sich komischerweise an, als schiebe er nicht von hinten, sondern ziehe von vorn, wie mit dem unwiderstehlichen Zug eines Magneten. Man musste sich dagegen wehren, vorwärtsgezogen zu werden. Und die gesamte Energie ballte sich in einer einzigen surrenden, länglichen Zunge der Vernichtung. Wir wussten es nicht, als wir damals zuschauten, aber es starben Menschen, als der Tornado vorbeizog.
Ein, zwei Minuten lang hielt er inne und schien auf der Stelle zu verharren.
»Das könnte heißen, er kommt in unsere Richtung«, sagte mein Vater zu meinem Großvater.
Ich verstand das so, dass wir uns nun alle in unsere Autos schmissen und haste, was kannste in die entgegengesetzte Richtung fahren würden. Für diese Alternative hätte ich votiert, wenn man mich gefragt hätte.
Doch mein Großvater sagte lediglich: »Ja, könnte sein«, und verzog keine Miene.
»Hast du schon einmal einen Tornado von so nahem gesehen, Billy?«, fragte mich mein Vater mit eigenartigem Lächeln.
Ich starrte ihn erstaunt an. Natürlich nicht und ich wollte es auch nicht. Dass die Erwachsenen niemals und vor nichts Angst hatten, war bei weitem das am meisten Angst Machende an Erwachsenen in den Fünfzigern.
»Was tun wir, wenn er hierherkommt?«, fragte ich gequält und wusste, dass mir die Antwort nicht gefallen würde.
»Hm, gute Frage, Billy, denn es passiert leicht, dass man vor einem Tornado flieht und direkt in einen anderen fährt. Weißt du, dass mehr Leute auf die Art sterben als an anderen Ursachen?« Er wandte sich an meinen Großvater. »Erinnerst du dich an Bud und Mabel Weidermeyer?«
Mein Großvater nickte mit einem Anflug von Begeisterung, als wolle er sagen: Wer könnte das vergessen? »Sie hätten doch wissen müssen, dass man zu Fuß keinem Tornado entkommt«, sagte mein Großvater. »Besonders Bud mit dem Holzbein.«
»Hat man das Bein je gefunden?«
»Nein. Mabel auch nicht. Ach, übrigens, ich glaube, er bewegt
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