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Mein Amerika: Erinnerungen an eine ganz normale Kindheit

Mein Amerika: Erinnerungen an eine ganz normale Kindheit

Titel: Mein Amerika: Erinnerungen an eine ganz normale Kindheit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bill Bryson
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sich wieder.«
    Er zeigte auf den Tornado, und wir alle sahen gespannt hin. Nach einigen Augenblicken war klar, dass er tatsächlich seinen imposanten Marsch nach Osten wiederaufgenommen hatte. Er kam also doch nicht in unsere Richtung. Sehr bald darauf hob er sich vom Boden und kehrte in die schwarzen Wolken über sich zurück, als werde er zurückgezogen. Sekunden danach hörte der Wind auf. Mein Vater und Großvater gingen ins Haus und sahen ein wenig enttäuscht aus.
    Am nächsten Tag fuhren wir dorthin, wo er hergezogen war, und schauten uns um. Überall herrschte Zerstörung – Bäume und elektrische Leitungen waren heruntergerissen, Scheunen zu Splittern zerfetzt, Häuser halb verschwunden. Sechs Menschen waren im Nachbarkreis umgekommen. Wahrscheinlich hatten die sich auch nicht wegen des Tornados gesorgt.

    Ganz besonders erinnere ich mich an die kalten Winter in Winfield. Meine Großeltern sparten an der Heizung und drehten sie nachts fast aus, so dass das Haus sich nie aufwärmte, nur die Küche war manchmal, wenn zum Beispiel zu Thanksgiving oder Weihnachten ein großes Essen gekocht wurde, von einer wunderbar dunstigen Wärme erfüllt. Sonst lebte man in dem Haus wie in einer Hütte in der Arktis. Der erste Stock war ein einziger, langer Raum, der durch einen Vorhang geteilt werden konnte und in dem es überhaupt keine Heizung, aber den kältesten Lineoleumboden der Welt gab.
    Doch an einer Stelle war es sogar noch kälter: auf der Schlafveranda. Die Schlafveranda war eine ein wenig wackelige, locker mit Wänden versehene Veranda auf der Rückseite des Hauses, die nur dem Namen nach von der Außenwelt getrennt war. Dort stand ein uraltes, durchhängendes Bett, in dem mein Großvater schlief, wenn es im Sommer unerträglich heiß war. Doch wenn im Winter manchmal das Haus voller Gäste war, wurde es auch in Dienst gestellt.
    Die einzige Wärme in der Schlafveranda kam von dem menschlichen Wesen, das sich dort aufhielt. Es konnte kaum mehr als ein, zwei Grad wärmer sein als in der Welt draußen – und draußen war es extrem kalt. Auf der Schlafveranda zu schlafen bedurfte also einiger Vorbereitung. Zuerst zog man lange Unterwäsche an, Schlafanzug, Jeans, ein Sweatshirt, Großvaters alte Strickjacke und Bademantel, zwei Paar Wollsocken an die Füße und ein Paar an die Hände und eine Mütze mit Ohrenklappen, die man unter dem Kinn zusammenband. Dann stieg man ins Bett und wurde sofort mit einem Dutzend Bettdecken zugedeckt, drei Pferdedecken, allen Mänteln im Haus, einer Plane und einem Stück altem Teppich. Ich bin nicht einmal sicher, ob sie einem nicht noch einen alten Schrank obendrauf legten, um das Ganze niederzuhalten. Es war, als schlafe man unter einem toten Pferd. Etwa eine Minute lang war es unvorstellbar kalt, schockierend kalt, doch dann sickerte allmählich die eigene Körperhitze ein, und man wurde warm und auf eine Art glücklich, die man noch wenige Minuten zuvor nicht für möglich gehalten hätte. Es war die reine Glückseligkeit.
    Jedenfalls so lange, bis man einen Muskel bewegte. Die Wärme, entdeckte man nämlich dann, breitete sich nur bis zum Rand der Haut und kein Mikron weiter aus. Die Lage zu verändern stand völlig außer Frage. Wenn man auch nur den Finger krümmte oder ein Knie beugte, war das, als tauche man sie in flüssigen Stickstoff. Man hatte keine Wahl, als vollkommen unbeweglich zu verharren. Es war eine seltsame und merkwürdig wunderbare Erfahrung – so prekär zwischen Entzücken und Folter zu schweben.
    Die Schlafveranda war der ruhigste, friedvollste Ort auf Erden. Der Blick durch das große breite Fenster am Fuß des Bettes ging über leere, dunkle Felder bis zu einer Stadt namens Swedesburg, nach der Nationalität ihrer Gründer benannt, wegen der Tabakprisen, die sich die Einheimischen in die Münder stopften, wenn sie ihren Geschäften nachgingen, aber als Snooseville bekannt. Snoose war eine zwischen Wange und Zahnfleisch festverankerte Hausmachermischung aus Tabak und Salz, aus der man das Nikotin langsam und stetig heraussaugen konnte. Sie wurde stündlich aufgestockt und dauerhaft im Mund behalten. Manche Leute, erzählte mir mein Vater, steckten sich sogar vor dem Schlafengehen noch einen neuen Priem in den Mund.
    Ich war nie in Swedesburg gewesen. Es gab keinen Grund, dorthin zu fahren – es war bloß ein Häuflein Häuser –, doch nachts im Winter war es mit seinen entfernten Lichtern wie ein Schiff weit draußen auf dem Meer. Ich fand es

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