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Mein Amerika: Erinnerungen an eine ganz normale Kindheit

Mein Amerika: Erinnerungen an eine ganz normale Kindheit

Titel: Mein Amerika: Erinnerungen an eine ganz normale Kindheit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bill Bryson
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beruhigend und irgendwie auch tröstlich, die Lichter zu sehen und mir vorzustellen, dass alle Bürger von Snooseville kuschelig in ihren Häusern saßen und vielleicht zu uns hinüber nach Winfield schauten und das ihrerseits tröstlich fanden. Mein Vater erzählte mir, dass in seiner Kindheit die Leute in Snooseville zu Hause immer noch Schwedisch gesprochen hätten. Auch die Vorstellung gefiel mir sehr – dass dort drüben ein kleiner Außenposten Schwedens lag und die Leute zusammensaßen, Hering und Schwarzbrot futterten, »Heja! Heja!« riefen und mitten auf dem amerikanischen Kontinent fröhlich und zufrieden schwedisch waren. Wenn man in der Jugend meines Vaters durch Iowa fuhr, kam man regelmäßig in Städte oder Dörfer, in denen alle Bewohner Deutsch oder Niederländisch oder Tschechisch oder Dänisch oder sonst eine Sprache Nord- oder Mitteleuropas sprachen.
    Doch die Zeiten waren längst passé. Als im Gefolge des Ersten Weltkrieges 1916 der Englisch sprechende Teil der Bevölkerung misstrauisch hinsichtlich der Loyalität der nicht Englisch sprechenden wurde, verfügte ein Gouverneur von Iowa, William L. Harding, dass es hinfort ein Verbrechen sei, in Schulen, Kirchen, ja sogar am Telefon in dem großen Staat Iowa eine fremde Sprache zu sprechen. Es gab Proteste, weil die Leute ihre Gottesdienste in ihrer eigenen Sprache aufgeben mussten, doch Harding ließ sich nicht erweichen. »Es ist ohnehin zwecklos, wenn jemand seine Zeit mit Beten in einer anderen Sprache als Englisch vergeudet«, erwiderte er. »Gott hört nur zu, wenn Englisch gesprochen wird.«
    Die kleinen Sprachinseln verschwanden eine nach der anderen. In den 1950er Jahren gab es kaum noch welche. Damals hätte es keiner geahnt – doch die kleinen Städte und Familienfarmen sollten schon bald gleichermaßen gefährdet sein.
    1950 hatten die Vereinigten Staaten fast sechs Millionen Farmen. In einem halben Jahrhundert verschwanden fast zwei Drittel davon. Mehr als die Hälfte des US-amerikanischen Landes wurde landwirtschaftlich genutzt, als ich ein Junge war; dank der Verbreitung von Beton sind es heute nur noch 40 Prozent – ein beträchtlicher Rückgang in einer einzigen Lebenszeit.
    Ich wurde in einem Staat geboren, in dem es 200 000 Farmen gab. Heute sind es nicht einmal mehr halb so viel, und die Tendenz ist weiter fallend. Von den 750 000 Menschen, die in meiner Jugend in Iowa auf Farmen lebten, sind eine halbe Million – zwei von dreien – verschwunden, und der Prozess geht gnadenlos weiter. In den 1970er Jahren ist die Bevölkerungszahl auf dem Lande um 25 Prozent gefallen und in den 1980er Jahren noch einmal um 35 Prozent. Und in den 1990ern sind noch einmal 100 000 Leute abgewandert. Und die Menschen, die übrig bleiben, sind alt. 1988 hatte Iowa mehr Einwohner von 75 und älter als von fünf und jünger. In 37 (und die Zahl geht auf die Hälfte zu) von 99 Bezirken verzeichnete man mehr Todesfälle als Geburten.
    Es liegt an den Folgen des Zwangs zu größerer Effizienz und fortwährenden Fusionen. Alte Farmen tun sich zunehmend zusammen zu Superfarmen von 3000 Morgen und mehr. Bis zur Mitte dieses Jahrhunderts, meint man, könnte die Anzahl der Farmen in Iowa auf 10 000 zurückgehen. Da bleibt nicht viel Landbevölkerung auf einer Fläche von der Größe Englands.
    Und weil es nur noch so wenig Farmer im Umland gibt, sind die meisten Kleinstädte in Iowa schon ausgestorben. Einerlei, wo man heutzutage hinfährt, überall im Staat sieht man leere Städte, leere Straßen, zusammenfallende Scheunen, mit Brettern vernagelte Farmhäuser. Und überall hat man den Eindruck, man käme kurz nach einer schrecklichen ansteckenden Seuche, was in gewissem Sinn ja auch stimmt. In Illinois, Kansas und Missouri ist es nicht anders und noch schlimmer in Nebraska und Nord- und Süddakota. Wo früher kleine Städte waren, sind heute leere Hauptstraßen.
    Winfield hält sich so eben noch am Leben. Die Geschäfte auf der Main Street – der Dime-Store, der Billardsalon, die kleine Zeitungsredaktion, die Banken, die Lebensmittelläden – sind alle längst nicht mehr da. Selbst wenn es noch NeHi-Sprudel gäbe, könnte man ihn nirgendwo kaufen. In der Stadt kann man überhaupt nichts mehr zum Essen kaufen. Das Haus meiner Großeltern steht noch – zumindest war es beim letzten Mal, als ich vorbeigefahren bin, noch da –, doch die Scheune, die Verandaschaukel, der Schatten spendende Baum hinter dem Haus und die Obstbäume – ja, alles, was es zu

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