Mein Amerika: Erinnerungen an eine ganz normale Kindheit
Saturday Evening Post , Time und Newsweek räumten Artikeln über interessante Arten des Weltuntergangs reichlich Platz ein. Was konnte nicht alles schiefgehen! Die Sonne mochte explodieren oder abrupt aufhören zu scheinen. Wenn die Erde durch das Gefunkel und Geglitzer eines Kometenschweifs glitt, wurden wir vielleicht in eine mörderische Strahlung getaucht. Vielleicht bekamen wir eine neue Eiszeit. Oder die Erde löste sich aus irgendeinem Grunde aus ihrer ursprünglichen Umlaufbahn, trieb wie ein Ballon, der sich losgerissen hat, aus dem Sonnensystem und bewegte sich immer tiefer in eine kalte, lichtlose Ecke des Universums. Viele Überlegungen zur Weltraumfahrerei drehten sich darum, vor diesen unvermeidbaren Risiken zu fliehen und ein neues Leben mit interessanteren Schulterpolstern unter einer weit entfernten galaktischen Kuppel zu beginnen.
Machten sich die Leute über eine dieser Gefahren ernsthaft Sorgen? Wer weiß? Wer weiß, was überhaupt jemand in den 1950ern über irgendetwas dachte, ja, ob er überhaupt dachte? Ich weiß nur, dass man beim Durchblättern von Illustrierten aus der Zeit auf eine seltsame Mischung aus ungetrübtem Optimismus und einer Art vorauseilender Verzweiflung stößt. Mehr als 40 Prozent der Menschen dachte 1955, es werde in den nächsten fünf Jahren eine globale Katastrophe geben, vermutlich in Gestalt eines Weltkrieges, und die Hälfte von denen war überzeugt, es werde das Ende der Menschheit sein. Doch eben die Menschen, die behaupteten, dass sie jeden Moment mit dem Tod rechneten, waren gleichzeitig eifrig dabei, neue Häuser zu kaufen, Swimmingpools auszuschachten, in Aktien, Fonds und ihre Altersversorgung zu investieren und sich ganz allgemein auf ein langes Leben einzurichten. Das Zeitalter war unmöglich zu verstehen.
Doch selbst nach den seltsamen, dehnbaren Maßstäben der Zeit waren meine Eltern einzigartig, unbegreiflich sorglos. Soweit ich es mitkriegte, fürchteten sie sich vor gar nichts, selbst nicht vor Dingen, vor denen andere Leute wirklich Angst hattten. Zum Beispiel vor Kinderlähmung. Seit Ende des 19. Jahrhunderts spielte Kinderlähmung in regelmäßigen Abständen immer wieder eine Rolle im Leben der US-Amerikaner (die Frage, warum sie plötzlich in der Zeit auftauchte, kann offenbar niemand beantworten), doch Anfang der 1940er Jahre trat sie besonders bösartig und in epidemischen Ausmaßen bis weit ins folgende Jahrzehnt auf; jedes Jahr wurden landesweit zwischen 30 000 und 40 000 Fälle registriert. In Iowa war das schlimmste Jahr 1952, was zufällig auch das erste volle Jahr meines Lebens war. Es gab über 3500 Erkrankungen – etwa zehn Prozent derjenigen im ganzen Land und fast dreimal so viel wie normalerweise im Bundesstaat –, davon 163 Todesfälle. Ein damals berühmtes Foto aus dem Des Moines Register zeigt vor dem Blank Children’s Hospital in Des Moines versammelte Familien, einschließlich eines Mannes auf einer hohen Leiter, die ihren Kindern auf der Isolierstation durch die Fenster aufmunternde gute Wünsche zuschreien. Selbst nach einem halben Jahrhundert ist das ein gespenstisches Bild, besonders für die, die sich erinnern können, wie bedrohlich Polio war.
Und zwar aus mehreren Gründen. Erstens wusste niemand, wie sie entstand oder sich verbreitete. Epidemien kamen hauptsächlich im Sommer, also glaubten die Leute, Kinderlähmung habe etwas mit Sommeraktivitäten wie Picknicks und Schwimmen zu tun, und man durfte nicht mehr in nassen Klamotten herumsitzen oder Freibadwasser schlucken. (Kinderlähmung wurde tatsächlich durch verunreinigtes Essen und Wasser übertragen, doch Freibadwasser war gechlort und deshalb eher ungefährlich.) Zweitens steckten sich überproportional viele junge Menschen mit Kinderlähmung an, aber die Symptome waren nicht eindeutig und verschieden und die Erkrankung immer schwer zu erkennen. Im Anfangsstadium konnte der beste Arzt der Welt nicht sagen, ob ein Kind Kinderlähmung oder nur Grippe oder eine Sommererkältung hatte. Für die, die Polio hatten, waren die Auswirkungen schrecklich unvorhersehbar. Zwei Drittel der Betroffenen erholten sich nach drei, vier Tagen vollständig und ohne irgendwelche negativen Folgen. Doch andere blieben teilweise oder ganz gelähmt. Manche konnten nicht einmal mehr selbstständig atmen. In den Vereinigten Staaten starben nur etwa drei Prozent der Betroffenen; bei Ausbrüchen woanders waren es manchmal bis zu 30 Prozent. Die meisten der armen Eltern, die etwas durch
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