Mein Amerika: Erinnerungen an eine ganz normale Kindheit
Moines, Iowa, hierhergekommen?«
»Mit unseren Eltern im Auto.«
»Eure Eltern haben euch von Des Moines bis hierhergefahren?«
Meine Schwester nickte.
»Warum?«
»Mein Dad meint, es wäre lehrreich.«
»Nach Harlem zu kommen?« Die Polizisten schauten einander an. »Wo sind eure Eltern jetzt, Mädchen?«
Im Hotel W.E.B. DuBois oder Chateau Cotton Club oder wie immer es hieß.
»Da sind eure Eltern?«
Meine Schwester nickte wieder.
»Ihr seid also wirklich aus Iowa, Mädchen?«
Die Polizisten brachten uns zurück ins Hotel und geleiteten uns zu unserem Zimmer. Sie klopften vernehmlich an die Tür, und mein Vater sagte herein. Die Polizisten wussten nicht, ob sie streng mit meinem Vater sein sollten oder sanft, ob sie ihn verhaften oder ihm ein bisschen Geld geben sollten oder was sonst. Schlussendlich legten sie ihm nahe, früh am nächsten Morgen das Hotel zu verlassen und ein geeigneteres in einer ungefährlicheren Gegend viel weiter unten in Manhattan zu suchen.
Mein Vater war nicht in der Position, was dagegen zu sagen. Schon weil er von der Taille abwärts nackt war. Er stand halb hinter der Tür, damit die Polizisten seine peinliche Lage nicht bemerkten, doch für uns, die wir auf dem Bett saßen, war der Anblick, wie unser nacktarschiger Vater respektvoll und mit todernster Stimme mit zwei riesigen New Yorker Cops redete, absolut surreal. Und wir sollten ihn so schnell nicht vergessen.
Mein Vater war allerdings ziemlich blass, als die Herren gegangen waren, und redete ausführlich mit meiner Mutter darüber, was wir jetzt tun sollten. Sie beschlossen, es eine Nacht zu überschlafen. Am Ende sind wir geblieben. Der Preis war einfach zu gut.
Als ich zum zweiten Mal bemerkte, dass man sich nicht hundertprozentig auf Erwachsene verlassen kann, bekam ich auch das erste Mal richtige Angst vor dem, was in der großen, weiten Welt alles passieren konnte. Es war im Herbst 1962, kurz vor meinem elften Geburtstag, und ich war allein zu Haus und schaute fern. Da wurde die Sendung wegen einer Sondermeldung aus dem Weißen Haus unterbrochen. Präsident Kennedy erschien mit ernster, müder Miene und deutete an, dass die Dinge hinsichtlich der Kubakrise nicht sonderlich gut liefen – von der wusste ich zu dem Zeitpunkt natürlich nichts.
Die Krise war entstanden (falls Sie es nicht wissen), als die Vereinigten Staaten entdeckt hatten, dass die Russen Vorbereitungen trafen (dachten wir jedenfalls), Atomwaffen auf Kuba zu stationieren, nur 120 Kilometer von US-amerikanischem Boden entfernt. Dass wir jede Menge auf Russland gerichtete Raketen in ähnlicher Entfernung hatten, spielte keine Rolle. Wir waren es nicht gewöhnt, in unserer eigenen Hemisphäre bedroht zu werden, und ließen es uns auch jetzt nicht gefallen. Kennedy befahl Chruschtschow, mit dem Bau von Raketenabschussrampen aufzuhören, sonst könnte er aber was erleben.
Der Präsident erzählte uns in der Rede, die ich sah, dass wir jetzt bei dem »Sonst könnte er aber was erleben«-Teil des Dramas waren. Daran erinnere ich mich so deutlich wie nur irgendwas, vor allem, weil Kennedy so sorgenvoll und grau aussah und man eine solche Miene ja nicht bei einem Präsidenten sehen will, wenn man zehn Jahre alt ist. Um unser Missfallen zu bekunden, hatten wir eine Seeblockade um Kuba errichtet, und Kennedy teilte uns nun mit, dass ein sowjetisches Schiff auf dem Weg war, sie zu durchbrechen. Er sagte, er habe Befehl gegeben, dass US-amerikanische Zerstörer dem sowjetischen Schiff einen warnenden Schuss vor den Bug geben sollten, falls es wirklich die Blockade zu durchbrechen versuche. Wenn es weiterfahre, sollten sie es versenken. Was natürlich den Beginn des Dritten Weltkriegs bedeutet hätte. Das begriff selbst ich. Es war das erste Mal, dass mir das Blut in den Adern gefror.
Da Kennedys Tonfall verriet, dass das alles kurz bevorstand, verspeiste ich das letzte Stück eines Toddle-House-Schokoladenkuchens, das für meine Schwester bestimmt war, und lungerte dann ein wenig auf der hinteren Veranda herum, weil ich als Erster meinen Eltern die Neuigkeit erzählen wollte, dass wir alle sterben würden. Als sie nach Hause kamen, sagten sie mir, ich solle keine Angst haben, alles werde gut, und sie hatten natürlich wie immer Recht. Wir starben nicht – wenn ich auch in tödliche Gefahr geriet, als meine Schwester entdeckte, dass ich ihr Stück Kuchen aufgefuttert hatte.
Aber wir waren dem Tod alle näher, als wir ahnten. Robert McNamara, der damalige
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