Mein Auge ruht auf dir - Thriller
sich, wie er zwei Abende zu vor am Esstisch gesessen und abgestritten hatte, das Pergament jemals zu Gesicht bekommen zu haben. Und wie er zustimmend genickt hatte, als Pater Aiden unmissverständlich erklärte, dass das Schriftstück Eigentum des Vatikans sei.
Und das von einem ehemaligen und möglicherweise zukünftigen Jesuiten!, dachte sie voller Zorn.
Mariah musste an Lillians Nachricht an Richard denken: Richard, ich habe beschlossen, das Zwei-Millionen-Dollar-Angebot anzunehmen. Melde dich bei mir.
Sein Angebot, dachte Mariah. Wie viele Angebote hatte sie noch, und von wem? Wenn außer Richard niemand am Tisch gelogen hatte, wer waren dann die anderen von Dad hinzugezogenen Experten? Die Polizei überprüft Dads Telefonate, fiel ihr ein. Mal sehen, vielleicht ergibt sich dabei ja etwas.
Und wenn Lillian nicht mehr auftaucht, ist ihr dann etwas zugestoßen?
Es war undenkbar, dass Richard Lillian etwas antat, ebenso undenkbar wie der Vorwurf, dass ihre Mutter ihren Vater erschossen haben könnte.
Zumindest das ist mir ein kleiner Trost, dachte Mariah. Richard mag das genaue Gegenteil des Menschen sein, den ich bislang immer in ihm gesehen habe, aber er ist kein Mörder. Lieber Gott, lass Lillian wieder auftauchen. Lass uns das Pergament finden.
Es gab einige Briefe, die sie beantworten sollte. Sie setzte ihre Antworten auf und ließ sie per E-Mail der Sekretärin zukommen, damit sie sie ausdruckte und verschickte. Mittlerweile war es fast acht Uhr geworden, die Frühaufsteher dürften bald eintrudeln. Aber sie wollte niemandem über den Weg laufen. Bei der Totenwache hatte sie ihren Freunden gesagt, dass sie es zu schätzen wisse, wie sehr sie mit ihr trauerten, aber in der unmittelbaren Zukunft müsse sie sich auf die Pflege ihrer Mutter konzentrieren.
Seitdem hatte sie viele E-Mails erhalten, allesamt mit dem gleichen Grundtenor: »Bin in Gedanken bei dir, Mariah. Alles Gute. Du musst auch nicht darauf antworten.« Es war nett gemeint, aber keine wirkliche Hilfe.
Sie verließ das Büro und fuhr mit dem Lift ins Erdgeschoss. Als Nächstes wollte sie zu ihrer Wohnung im Greenwich Village.
Sie ließ sich den Wagen aus der Tiefgarage bringen und fuhr das kurze Stück in die Downing Street. Ihre Wohnung lag im zweiten Stock eines achtzig Jahre zuvor als Privatresidenz erbauten Stadthauses. Seit der verhängnisvollen Nacht, als sich ihr Vater nicht mehr am Telefon gemeldet hatte und sie noch um halb elf Uhr abends nach New Jersey aufgebrochen war, war sie nur einmal kurz hier gewesen, um sich ein paar Kleider zu holen.
Die Wohnung war nicht groß. Sie bestand aus einem Wohnzimmer, einem Schlafzimmer und einer Küche, in die kaum ein Herd, eine Spüle, eine Mikrowelle und einige Schränke passten. Dad hat mir beim Einzug geholfen, dachte sie. Das war vor sechs Jahren gewesen. Da war bei Mom bereits Alzheimer diagnostiziert worden, und ihre Symptome äußerten sich darin, dass sie sich oft wiederholte und vergesslich wurde. Ich habe vorgeschlagen, wieder nach Hause zu ziehen und nach New York zu pendeln. Aber Dad hat mich regelrecht rausgeworfen. Ich sei jung, hatte er gesagt, und müsse mein eigenes Leben führen.
Sie öffnete die Fenster, um frische Luft hereinzulassen, und freute sich über die Geräusche von der Straße. Musik in meinen Ohren, dachte sie. Ich liebe das Haus meiner Eltern, aber was jetzt? Wenn dieser Albtraum vorbei ist und Mom entlassen wird, kann sie sicherlich nicht hier bei mir wohnen. Ich muss wieder nach Mahwah ziehen. Wie lange kann ich es mir leisten, eine Vollzeit-Krankenpflegerin anzustellen?
Sie ließ sich in dem Clubsessel nieder, in dem ihr Vater vor seiner Pensionierung immer gesessen hatte. Alle sieben bis zehn Tage war er damals gegen achtzehn Uhr von der NYU hierhergekommen und hatte sich mit ihr einen Drink gegönnt. Daraufhin waren sie immer zu ihrem Lieblingsitaliener in der West 4th Street gegangen, bevor er sich um neun auf den Heimweg machte.
Oder auf den Weg zu Lillian, flüsterte eine unbehagliche Stimme in ihrem Hinterkopf.
Sie versuchte nicht daran zu denken. Nachdem eineinhalb Jahre zuvor seine Beziehung zu Lillian aufgeflogen war, hatte es keine gemeinsamen Abendessen mehr gegeben. Ich habe Dad gesagt, ich wolle ihm nicht seine wertvolle Zeit mit Lillian rauben …
Um sich von den Schuldgefühlen abzulenken, die sie bei solchen Gedanken stets überfielen, sah sie sich im Wohnzimmer um. Alle Wände waren in einem weichen Gelbton gehalten, der den Eindruck
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