Mein Bild sagt mehr als deine Worte
tot.«
»Ariel, der Engel?«
Ich kam mir plötzlich dumm vor. »Na ja, nicht wirklich«, murmelte ich.
Jack nahm mir das Foto wieder aus der Hand. »Ich finde, es wirkt überhaupt nicht, als würde sie schweben. Meiner Meinung nach balanciert sie da am Abgrund. Was so ziemlich der Wahrheit entspricht. Das Bild ist verwackelt, weil sie jeden Moment abstürzen kann.«
Der Zug kommt. Wenn du auf dem Gleis bleibst, stirbst du. Wenn du von der Brücke springst, stirbst du auch.
»Und wer hat es aufgenommen?«, fragte ich.
Ein Zug kommt am Ende immer.
»Tja, das ist die große Frage. Wenn ich mich richtig erinnere, sind wir hier, um genau das herauszufinden.«
»Ihr Tagebuch«, sagte ich.
»Ja, das Tagebuch.«
Ich wusste, dass du die Hefte in einer Schachtel unter deinem Bett aufbewahrt hast. Das wusste ich, weil ich immer gesehen hatte, wie du eines davon herausgenommen, etwas hineingeschrieben und es dann wieder unter dem Bett verstaut hast. Natürlich habe ich nie gelesen, was du in dein Tagebuch geschrieben hast. Das zu tun, wäre der schlimmste Verrat gewesen. Man liest nicht heimlich das Tagebuch eines anderen. Doch jetzt war es, als wären diese Regeln alle außer Kraft gesetzt.
Als ich unter das Bett langte, um die Schachtel hervorzuziehen Tut mir leid , sagte Jack: »Hey, warte noch mal kurz.« Ich blickte zu ihm hoch. Er wirkte noch nervöser als vorher. Du hast ihm Angst eingejagt. Hast du überhaupt gemerkt, wie viel Angst du ihm eingejagt hast?
»Ich weiß, warum wir das machen«, sagte er, »und ich bin damit einverstanden, dass du ihr Tagebuch überfliegst, um herauszufinden, ob sie … also, ob darin noch jemand anders erwähnt wird. Aber ich will es nicht lesen. Keine Zeile davon. Und ich will auch nicht, dass du mir erzählst, was drinsteht. Wir wissen nicht, was sie alles aufgeschrieben hat. Und wenn da irgendwas über mich steht, was ich noch nicht verkraften kann … um ehrlich zu sein, ich weiß nicht, ob ich es jemals verkraften könnte. Ich will die Geschichte zwischen uns beiden so in Erinnerung behalten, wie sie bis jetzt für mich war. Und wenn es alles eine Lüge gewesen sein sollte, will ich es auch nicht wissen.«
Ich blickte ihn an. Wie hilflos er war.
»Sie hat dich geliebt«, sagte ich. »Das weißt du doch, oder? Sie hat dich geliebt.«
Und da passierte es. Da kamen ihm endlich die Tränen.
»Wie willst du das denn mit Sicherheit wissen?«, fragte er leise.
»Ich weiß es einfach«, sagte ich. »Es gibt nur ein paar Dinge, die ich ganz sicher weiß. Und dass sie dich geliebt hat, gehört dazu. In ihrem Tagebuch wird nichts zu finden sein, was das infrage stellt. Bestimmt hast du sie manchmal genervt. Und klar gab es immer wieder Phasen, in denen sie vollkommen durchgeknallt war. Aber im Grunde ihres Herzens hat sie dich geliebt.«
Es ist mir nicht leicht gefallen, das alles zu sagen. Ich wusste, dass er mir diese Sätze nie sagen würde. Ich musste darauf vertrauen, dass du mich auch geliebt hast. Nur eben auf eine andere Weise. Wir waren nie ineinander verliebt. Aber wir haben uns geliebt.
Jack wischte sich über die Augen, wütend auf sich selbst, weil er etwas von sich preisgegeben hatte. Ich langte unter das Bett und fand dort die Schachtel. Als ich sie hervorzog, war sie überraschend leicht. Dann warf ich einen Blick hinein und entdeckte, warum.
Sie war leer.
9 H
Mein Gehirn blendete eine kurze Geschichte leerer Schachteln ein.
Die großen Pappkartons, aus denen ich als Kind ein Fort gebaut habe. Das Haus, auf das ich an allen Seiten Fenster gezeichnet habe. Um sie danach auszuschneiden und damit das Haus zu zerstören.
Die Kartons, in denen die Pullover ins Haus kamen. Schuhschachteln, die ich ganz unten in meinem Schrank aufbewahrte, bis ich sie mit irgendeiner Ansammlung von Gegenständen füllen konnte.
Särge.
Die leer gegessene Cracker-Jack-Packung damals. Als ich so enttäuscht war, weil der versprochene Schatz sich als billige Plastikfigur entpuppte.
Ein leerer Sandkasten, der aussieht, als würde er auf Sand warten.
Unser Briefkasten, der immer wirkt, als wäre er voll mit Post. Aber sicher sein kann man sich da nicht. Meistens klingt es hohl, wenn man ihn öffnet.
Was machte Pandora mit ihrer geöffneten Büchse, nachdem sie das Unheil in die Welt entlassen hatte? Stellte sie sie bei sich zu Hause auf den Kaminsims, zur Erinnerung an ihre Tat?
9 I
Ich schleuderte die leere Schachtel beiseite, krabbelte unter dein Bett und suchte nach einer
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