Mein Bild sagt mehr als deine Worte
anderen. Suchte nach irgendetwas, nach dem Schatz. Und als ich ihn nicht fand, wurde ich von einer Riesenwut auf alles gepackt. Ich begann, an den Dingen zu zerren. Zu deinem Zimmer passte es nicht, so aufgeräumt zu sein. Ich zog an dem Bettlaken, bis die Matratze entblößt war. Ich machte mich über die Griffe der Schubladen her. Jack brüllte mich an, dass ich aufhören solle, fragte ununterbrochen, was ich da tat. Ich hatte genug von der Ordnung und von der Leere. Ich zog eine Schublade nach der anderen auf, auf der Suche nach deinen Tagebüchern, auf der Suche nach irgendeinem Wort von dir.
»Evan!«, rief Jack. Er packte mich am Arm, aber ich stieß ihn fort. Ich war genauso wie du.
Dann kam ich zur untersten Schublade deines Schreibtischs. Ich streckte die Hand nach der untersten Schublade deines Schreibtischs aus. Ich zog sie auf.
Du weißt, was ich da gefunden habe, oder?
9 J
9 K
9 L
9 M
9 N
Ich drehte sie um. Auf der Rückseite standen ein Datum und eine Angabe. Monate zurück. Vorher. Es war nicht deine Handschrift.
11/11 Gleise
11/11 darunter
11/11 Sparrow
14/11 Selbstporträt
So plötzlich, wie ich angefangen hatte, dein Zimmer zu verwüsten, hörte ich damit auch wieder auf. Jack trat auf den Plan, starrte erst mich und dann die Fotos in meiner Hand an.
»Es ist dieser Typ«, sagte Jack. »Er hat die Fotos gemacht.«
Ich drehte das Foto um. »Da steht, dass er Sparrow heißt.« Ich hielt das abstrakte vierte Foto hoch. »Aber das hier ist das Selbstporträt.«
»Na, das bringt uns ja mächtig weiter.«
Ich musterte die Angaben. »Sieht nach der Handschrift eines Mädchens aus«, sagte ich.
»Trotzdem, da ist ein Junge auf dem Foto.«
Ich begriff nicht, warum Jack darauf so beharrte. »Ich glaub wirklich nicht, dass das ein Selbstporträt ist«, sagte ich.
»Schon klar. Aber sie hatte ein Foto von ihm, Evan. Man hebt von einem vollkommen Fremden kein Foto auf.«
»Es war in ihrer Schublade. Sie hat es ja nicht aufgehängt.«
»Vielleicht weil sie ihn geheim halten wollte? Vielleicht war er ja ihr Geheimnis.«
Nein, hätte ich am liebsten gerufen. Sie hat uns gehört.
»In unsere Schule geht er jedenfalls nicht«, sagte ich. »An solche Haare würde man sich erinnern, selbst wenn wir zweitausend Schüler sind.«
Es dämmerte allmählich. Die Nacht zog herauf. Ich öffnete auch noch alle anderen Schubladen im Zimmer, diesmal etwas sanfter, aber ich konnte nichts mehr finden. Kein Bild. Kein Wort.
»Wir sollten jetzt besser gehen«, sagte Jack. »Aufräumen und gehen.«
Ich hielt Sparrows Foto hoch.
»Die Leute werden sich an ihn erinnern«, sagte ich. »Jemand wird ihn auf dem Bild erkennen. Er ist der Schlüssel.«
10
Ich hatte noch nie einen Terminkalender.
Keine Ahnung, was ich am 11.11. gemacht habe. Oder am 14.11.
War ich da mit dir zusammen? Zumindest einen Teil des Tages? Hast du Jack getroffen? Bist du mit Leuten unterwegs gewesen, die wir nicht kennen? Oder vielleicht mit Leuten, die wir kennen?
Ich versuchte, mich an andere zu erinnern. Andere Menschen in deinem Leben. »Meine heimliche Freundin«, hast du häufiger im Spaß gesagt. Aber da war nichts. Nichts in meiner Reichweite. Hast du damit »Mein heimlicher Freund« sagen wollen?
Ich war so weit, dass ich mir vielleicht sogar Erinnerungen ausdachte, nur um Antworten zu haben.
Unser Gehirn macht so etwas manchmal.
Zumindest mein Gehirn.
Aber du wärst nie dazu fähig gewesen, dich selbst so auszutricksen, oder?
10 A
Was habe ich dir als Andenken an mich gegeben? Keine Fotografien. Andere Dinge.
Wörter und Wörter und Wörter und Wörter. Hauptsächlich persönlich übergeben oder auf dem Computer getippt.
Ich hätte dir mehr mit Herzblut-Tinte schreiben sollen.
Warum? Dann hättest du nur noch mehr zurücklassen müssen.
Nach meinen Rosen hab ich in deinem Zimmer gar nicht Ausschau gehalten, aber sie wären mir wahrscheinlich auch so aufgefallen, wenn es sie noch gegeben hätte. Erinnerst du dich? Es war unser zufälliger Jahrestag. Letztes Jahr, gegen Schuljahrsende, also wahrscheinlich Juni.
»Wir haben gar keinen Jahrestag«, hast du auf dem Heimweg von der Schule gesagt. »Wir sollten einen Jahrestag haben.«
»Wie wär’s mit heute?«, sagte ich. »Wenn wir schon beschließen, einen Jahrestag zu haben, warum dann nicht heute? Wir werden in Zukunft als unseren zufälligen Jahrestag den Tag feiern, an dem uns spontan eingefallen ist, dass wir einen haben wollen.«
Du hast gegrinst. »Das
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