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Mein Bild sagt mehr als deine Worte

Mein Bild sagt mehr als deine Worte

Titel: Mein Bild sagt mehr als deine Worte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: David Levithan
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schlafen.
    Ich hatte nicht erwartet, dort irgendetwas zu finden, deshalb war ich überrascht, als ich den zweiten Umschlag sah.
    Er lag nicht an derselben Stelle wie der erste. Diesmal befand er sich genau in der Mitte zwischen den vier kahlen Bäumen. Als hätte jemand zwischen ihnen ein X gezeichnet und der Umschlag markierte den Kreuzungspunkt. Wie in einem Fadenkreuz.
    Der Boden war immer noch nass, und als ich darüberging, sanken meine Stiefel leicht ein. Obwohl es so nah bei der Schule war, war ich ganz allein. Alle anderen schliefen noch. Es war für sie viel zu früh. Ich war der frühmorgendliche Wächter.
    Nur was wäre bei mir denn sicher und behütet? Was konnte man mir anvertrauen? Ich war nicht in der Lage gewesen, Leid zu verhindern. Stattdessen hatte ich Schmerz zugefügt.
    Ich hob den Umschlag auf und musterte ihn. Auch darauf keine Adresse, kein Hinweis. Versiegeltes blankes Papier.
    Ich wollte so gern mehr mit deiner Handschrift. Nachdem du fort warst, wurde mir erst klar, wie wenig ich davon besaß.
    Ich riss den Umschlag auf und schüttelte das Foto heraus.
    Diesmal war die Überraschung noch viel größer.

    Es war ein Bild von mir.
    Das Foto war ich.

2 A
    Niemand hatte jemals ein Foto von mir gemacht. Sie wollten nicht. Oder ich hab sie nicht gelassen.
    Die einzige Ausnahme warst du.

2 B
    Ich blickte mich nach allen Seiten um. Zum Wald. Zur Schule. Den Weg entlang. Die gesamten 360 Grad. »Der Kreis schließt sich«, sagtest du. Ich hatte nicht das Gefühl, beobachtet zu werden. Ausgeschlossen war es trotzdem nicht.
    Aber es war jetzt völlig ausgeschlossen, dass es sich um ein rein zufälliges Ereignis handelte. Denn in dem Umschlag hatte ich gesteckt. Und der Umschlag war trocken. Und erst vor ungefähr einer Stunde hatte es aufgehört zu regnen. Was bedeutete, dass wer auch immer ihn da hingelegt hatte, dafür im Morgengrauen in den Wald gegangen war. Möglicherweise wusste er oder sie, dass ich so früh hierherkommen würde. Möglicherweise kannte er oder sie mich und wusste genau, wann ich kommen würde.
    Du hättest es gewusst. Jack hätte es auch gewusst.
    Es fühlte sich auf einmal weniger wie ein Mysterium und eher wie ein Spiel an. Ein Trick. Eine Falle.
    Ich steckte das Foto in den Umschlag und den Umschlag in die Hosentasche. Ich wunderte mich, warum mein Name nicht darauf stand. Was, wenn jemand anders ihn gefunden hätte?
    Den Rest des Schulwegs kehrte mein Gehirn zu Nullen und Einsen zurück. Das 001110101110 ist 011101100110 eine 10011101 Sprache 1111110000000. Auf nichts fokussiert, für alles offen – ein Zustand, in den ich verfalle, wenn all meine Sinne sich verwirren. Meine Stimme ist blind, mein Gehör ist stumm, mein Auge ist taub. Kunst ist eine Wissenschaft, Mathematik ist ein Gespräch und Musik eine blutige Angelegenheit. Ich bin so weit weg, dass ich ganz bei mir bin. Die Farben nehme ich erst dann wahr, wenn ich sie schmecke. Nicht das Gelb oder das Grün. Ich schmecke das Dunkelblau. Das Dunkelrot.
    Wie du siehst, begreife ich.
    Die Schultüren waren noch verschlossen, deshalb ging ich hinter das Gebäude in den Pausenhof. Dort war ich allein. Es gab dort nur mich und eine Ansammlung nasser Zigarettenkippen eins zwei drei vier fünf unzählbar viele , und ich dachte darüber nach, ob sich aus ihrer Anordnung wohl eine Botschaft konstruieren ließe. Handelte es sich um ein Muster oder um Chaos? Wenn ich etwas nur lang genug anschaute, so glaubte ich, würde ich das Muster erkennen. 01001100011100001111 Und wenn ich nicht lang genug hinsah, wäre da Chaos. Den Schrei konnte ich zuerst nicht deuten.
    Über meine Gedanken fegt ununterbrochen ein Orkan hinweg. Sie müssen fest verwurzelt sein, um Bestand zu haben. Als Jack sich irgendwann vor mich stellte, hatte ich das Foto schon längst wieder vergessen. Ich dachte gerade an dich und hielt neben ihm nach dir Ausschau, als würde mein Gehirn plötzlich glauben, alles sei noch wie vor zwei Monaten. Mir fiel auf, dass seine Haare inzwischen länger waren und seine hochgegelte Strähne in der Stirn stacheliger und blonder, als ich sie mir normalerweise vorstellte, wenn ich ihn mir vorstellte. Erinnerst du dich noch daran, wie es sich anfühlte, als du glücklich warst? Alles eine Lüge. Ich hatte undeutlich das Gefühl, als gäbe es da etwas, das ich ihm unbedingt erzählen musste. Ich bemerkte, wie jemand oben in der Schulbücherei das Licht anmachte.
    Guten Morgen, Bücherei.
    »Wie lang bist du schon hier?«,

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