Mein Bild sagt mehr als deine Worte
ging gar nicht mehr.
14 A
15:30 Uhr.
Gehen.
15:45 Uhr.
Nichts entdecken.
15:50 Uhr.
Mich umsehen.
15:55 Uhr.
Da.
Ich muss überhaupt nicht auf den grünen Pfosten achten oder den Wechsel von Erde zu Kies.
Denn da sind sie.
Fotografien. Auf die Gleise gelegt.
15:57 Uhr.
Ich bin weniger als dreißig Meter entfernt. Und dann sehe ich.
Den Zug.
Kommen.
Ich renne.
Der Zug wird die Fotos zerfetzen.
Ich renne.
Das Geräusch des Zuges.
Das erste Foto.
Ich sollte nicht anhalten und schauen. Aber ich schaue.
Und dann, zwischen den Gleisen, die Worte:
ICH HABE GESEHEN
Das zweite Foto, vier Schwellen weiter.
Ich spüre, wie der Boden zittert.
Der Zug kommt.
Ich stürze dorthin.
Darunter:
WAS DU MIT IHR
Der Zug ist fast da.
Der Zug.
Pfeifen.
Die Warnung.
Kreischen.
Das dritte Foto.
Das dritte.
Zwischen meinen Fingern.
Ich spüre, wie der Zug die Luft vor sich herschiebt.
Höre das Heulen.
Ich schaue nicht. Lese nur darunter –
GETAN HAST
– und springe zur Seite.
Pralle hart auf.
Der Zug rattert vorüber.
Ich rolle über den Kies. Spitze Steine bohren sich in meine Haut.
Zerknittere dabei die Fotos in meiner Hand.
Stelle mir vor, wie die Leute im Zug mich beobachten.
Wie die Knipserin mich beobachtet.
Bin außer Atem.
Tief durchatmen.
Ich stehe auf.
Blinzele. Atme.
Ich wäre nicht gestorben. Wäre ich nicht.
Erinnere mich an das dritte Foto.
Schaue es an, neben dem Gleis, während der Zug vorbeirauscht.
Denke: WER BIST DU? WER BIST DU?
Gibt es keine weiteren Hinweise?
Das Leben hassen. Du hast es die ganze Zeit gesagt. Ich hasse das Leben. Und ich dachte, das wäre nur so ein Spruch.
Aber jetzt fühle ich es. Bis auf die Knochen.
Mit Frustration vermischt.
ICH HABE GESEHEN
Mit dem Gefühl von Ungerechtigkeit vermischt.
WAS DU
Mit Schuldgefühl vermischt.
MIT IHR
Mit Wut vermischt.
GETAN
Mit Hilflosigkeit vermischt.
HAST
Hass.
Hass.
Hass.
Ich war von Hass erfüllt, als ich nach Hause ging. War die ganze Nacht von Hass erfüllt. Am nächsten Morgen.
Du musst loslassen , hörte ich Jack sagen. Lass einfach los.
Und dann ließ ich die Fotos in seinen Spind gleiten.
Ich wollte, dass er sie fand.
Er sollte sie auch finden.
15
Weißt du noch, wie wir drei uns einmal über Zenons Teilungsparadoxon gestritten haben?
Jack hatte keine Ahnung, was das ist; deshalb hast du es ihm erklärt.
»Es geht dabei um Unendlichkeit und Bewegung«, hast du gesagt. »Du hast bestimmt schon mal davon gehört. Also, wenn du nämlich versuchst, irgendwohin zu kommen, indem du eine Strecke erst halbierst oder sonst irgendwie teilst, wirst du niemals wirklich ans Ziel gelangen, weil immer eine unendlich kleine Entfernung zwischen dir und deinem Ziel bestehen bleibt.«
»Das bekannteste Beispiel ist das mit der Wand«, mischte ich mich ein. »Wenn du erst die halbe Strecke gehst und dann noch einmal die Hälfte der Hälfte und davon dann noch einmal die Hälfte und immer so weiter, jeweils die Hälfte, dann wirst du niemals bis zur Wand kommen.«
»Ist das nicht unendlich traurig?«, hast du gesagt. »Also, ich meine, wirklich verstörend?«
»Aber warum?«, fragte Jack. »Ich kapier’s nicht.«
»Weil du nie ankommst. Dein ganzes Leben lang bemühst du dich und machst Fortschritte, aber du schaffst es nie.«
»Die Unendlichkeit ist gegen uns«, sagte ich. »Wir können uns abmühen, so viel wir wollen, und trotzdem können wir sie nie messen oder kontrollieren oder verstehen.«
»Hast du was gekifft?«, fragte Jack.
Das gefiel dir nicht.
»Nein«, hast du gesagt. »Wir denken nach . Wir denken über das nach, was wir in der Schule lernen, und wenden es an.«
»Aber das ist doch totaler Unsinn«, sagte Jack.
»Ich finde überhaupt nicht, dass das Unsinn ist«, hast du erwidert. »Was soll daran Unsinn sein?«
»Also, na ja, ist nicht die richtige Antwort darauf ganz einfach, dass man nie halbe Schritte macht? Ich meine, mal ganz abgesehen davon, dass es rein körperlich unmöglich ist, sagen wir, sich ein Tausendstel eines Zentimeters vorwärts zu bewegen, muss man erst ganz bestimmte Behauptungen akzeptieren, damit daraus überhaupt ein Paradox wird. Das muss man aber nicht. Wenn du zur Wand gehen willst, gehst du zur Wand.«
»Weil du in menschlichen Kategorien denkst«, hast du abschätzig gesagt.
»Ja, aber sind wir doch Menschen oder? Das letzte Mal, als ich das überprüft habe, waren wir es noch.«
Du hast dich zu ihm vorgebeugt. Bis zur Hälfte
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