Mein Bild sagt mehr als deine Worte
auf uns zugekommen. Du. Dieselbe wie immer, nur älter. Aber ich konnte nicht erkennen, auf wen von uns beiden du zugesteuert bist. Oder ob du ein Geist warst.
»Wie meinst du das, es hat mit Ariel zu tun?«, fragte Katie.
»Auf ein paar Fotos ist sie drauf. Wer die Fotos gemacht hat, muss sie gekannt haben. Ich weiß nicht, wer es ist.« Ich schaute Katie in die Augen. »Aber vielleicht kenne ich die Person ja trotzdem.«
Katie schüttelte den Kopf. »Ich bin’s nicht. Aber als du uns das andere Foto beim Mittagessen gezeigt hast, da hab ich mich an was erinnert …«
»Wo hast du das Foto her?«
Katie beugte sich zu mir vor, als wäre dies von allem, was wir bisher miteinander geredet hatten, das größte Geheimnis.
»Es wurde an unsere Redaktion geschickt«, flüsterte sie. »Ungefähr vor einer Woche.«
Ich war ganz nah dran. Ganz nah.
»An das LitArtMagazin?«, fragte ich. »Von wem?«
Auf einmal war ich total nervös.
»Weiß ich nicht. Die Einsendungen bleiben anonym. Das ist unser Grundsatz.«
»Wie meinst du das, anonym? Jemand muss doch wissen, von wem die Beiträge eingereicht werden.«
Katie lehnte sich zurück. »Ja, Mr Rogers. Aber er hält die Liste unter Verschluss.«
Ganz nah dran, aber ich berührte die Wand immer noch nicht.
Am liebsten hätte ich so fest auf den Tisch geschlagen, dass meine Hand in ihre sämtlichen Atome zerborsten wäre. Ich wollte nur noch Explosion und Zerstörung.
Ich sackte in meinem Stuhl zurück und Katie richtete sich auf. Ihr Oberkörper schwebte jetzt drohend über mir.
»Evan«, sagte sie, »warum bist du immer so viel allein?«
Eine solche Frage hätte ich vielleicht von dir erwartet oder von Fiona oder vielleicht sogar von Jack, wenn er mal so richtig wütend auf mich war. Aber nicht von Katie.
»Was meinst du damit?«, fragte ich.
»Sogar nachdem das mit Ariel passiert war … du hast dich in deinen Schmerz wie in eine dicke Decke eingewickelt und wir anderen waren außen vor. Nicht dass du keinen Grund für deine Trauer gehabt hättest, du bist ihr ja viel näher gewesen als zum Beispiel ich. Viel, viel näher. Aber trotzdem. Man könnte fast glauben, du und Jack, ihr hättet das Monopol darauf gehabt.«
»Du hast über sie gesagt, sie würde einen runterziehen.« So einfach kam Katie mir nicht davon.
Katie lachte darauf nur. »Sie hat einen runtergezogen, manchmal jedenfalls. Quatsch, sogar die meiste Zeit. Aber da gibt es auch ein paar Dinge, von denen du nichts weißt, Evan.«
»Was zum Beispiel?« Ich versuchte, es nicht wie eine Kampfansage klingen zu lassen, aber es war eine und kam bei Katie auch so an.
»Ich vermute mal, dass du nicht unbedingt viel Zeit in der Mädchentoilette verbringst?«
Was sollte ich darauf denn antworten?
»Wahrscheinlich hast du gar keine Ahnung, wie viel Zeit Ariel in der Mädchentoilette verbracht hat. Erster Stock, bei den Fremdsprachen war ihr Lieblingsklo. Aber manchmal war sie auch im Erdgeschoss, hinter Mathe. Oder direkt neben der Turnhalle. Sie hat dort nicht geraucht. Oder gekotzt. Also das gemacht, was man dort eben normalerweise macht. Nein. Sie hockte einfach nur in der Kabine. Manchmal hörte sie Musik. Manchmal auch nicht. Wir haben sie immer wieder gefragt, ob irgendwas nicht in Ordnung wäre, und manchmal kam darauf von ihr eine Antwort und manchmal auch nicht. Fiona hat sich richtig bemüht – haben wir beide. Dann habe ich es eines Tages nicht mehr ausgehalten – man kann die Türen ganz leicht von außen öffnen –, deshalb bin ich einfach zu ihr rein und hab die Tür hinter mir wieder verriegelt. Sie hat nicht geweint oder so was – damit hätte ich umgehen können. Es sah so aus, als würde sie mit sich selbst reden. Als würden sich Stimmen in ihrem Kopf streiten. Ja, genau so sah es aus. Ich hab ihr gesagt, dass sie Hilfe braucht. Von jemandem, der sich richtig damit auskennt. Wegen Problemen mit meinen Eltern war ich auch eine Zeit lang bei einer Therapeutin, und ich hab ihr gesagt, ich könnte da ja mal zusammen mit ihr hingehen oder wir könnten zusammen jemand anders für sie finden. Aber sie hat Nein gesagt. Sie ist überhaupt nicht darauf eingegangen, hat gar nicht versucht, sich zu verteidigen oder mir irgendwas zu erklären. Sie hat einfach nur Nein gesagt. Dann noch einmal ›Nein, tut mir leid‹. Und das war’s. Ich bin dagestanden und hab noch gewartet. Auf irgendwas. Aber sie ist an den Ort zurückgekehrt, wo sie vorher in ihrem Kopf war, wo auch immer, und ich kam
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