Mein erfundenes Land
»halbseidene« Frau verlor, womit in Chile nur gemeint ist, daß sie der sich ewig abrackernden unteren Mittelschicht entstammte. In einem anderen Land hätten die beiden womöglich ohne Drama zusammengefunden, aber in der Umgebung, die ihnen beschieden war, wurden sie mit dem Bannfluch belegt. Fünfzig Jahre lang sollte diese Frau Onkel Jorge abgöttisch lieben, aber sie trug eine mottenzerfressene Fuchsstola, färbte ihr Haar karottenrot, rauchte mit lässiger Gebärde und trank Bier aus der Flasche. Damit lieferte sie meiner Urgroßmutter Ester mehr als genug Gründe, ihr den Krieg zu erklären und ihrem Sohn zu verbieten, daß er sie in ihrer Gegenwart auch nur erwähnte. Er fügte sich stumm, aber am Tag nach dem Tod seiner Mutter heiratete er seine Geliebte, die damals schon nicht mehr jung und obendrein lungenkrank war, wenngleich noch immer bezaubernd. Sie liebten sich in der Armut, und nichts konnte sie trennen: Zwei Tage nachdem er von einem Herzanfall hingerafft worden war, fand man sie tot im Bett, eingehüllt in den alten Morgenmantel ihres Mannes.
Über Urgroßmutter Ester sollte ich einige Worte verlieren, denn ich glaube, so manches im Charakter ihrer Nachkommen erklärt sich aus ihrem mächtigen Einfluß, und in gewisser Weise steht sie für die unduldsame Matrone, die man damals wie heute häufig findet. Die Gestalt der Mutter ist bei uns mythisch überhöht, weshalb mich das unterwürfige Verhalten von Onkel Jorge nicht weiter wundert. Von den Chileninnen können die jüdische Mamme und die italienische Mamma noch einiges lernen. Zufällig stieß ich bei meinen Nachforschungen darauf, daß Doña Esters Mann ein schlechtes Händchen für Geschäfte hatte und all sein ererbtes Land und Vermögen verlor; offenbar hatte er Schulden bei seinen eigenen Brüdern. Als er sich ruiniert sah,fuhr er in sein Landhaus und schoß sich mit seiner Flinte in die Brust. Das habe ich, wie gesagt, erst kürzlich erfahren, denn die Familie hat es über hundert Jahre verheimlicht und spricht auch heute nur im Flüsterton darüber. Selbstmord galt als besonders schmähliche Sünde, weil man den Leichnam nicht in der geweihten Erde eines katholischen Gottesackers beisetzen durfte. Um der Schande zu entgehen, kleideten die Angehörigen den Toten in Gehrock und Zylinder, setzten ihn in eine Kutsche und brachten ihn zurück nach Santiago, wo sie ihn christlich beerdigen durften, weil alle, einschließlich des Priesters, ein Auge zudrückten. Das Ereignis spaltete die Familie in die direkten Nachkommen des Toten, die versichern, das mit dem Selbstmord sei Verleumdung, und die Nachkommen der Brüder, denen schließlich all sein Hab und Gut zufiel. Die Witwe dagegen versank in Depression und Armut. Sie war eine lebensfrohe und schöne Frau gewesen, die virtuos Klavier spielte, aber mit dem Tod ihres Mannes kleidete sie sich in strenge Trauer, schloß das Klavier ab und verließ das Haus nur noch zum täglichen Besuch der Messe. Mit der Zeit wurde sie durch Arthritis und Fettleibigkeit zu einem monströsen, zwischen vier Wände gesperrten Mahnmal. Der Gemeindepfarrer brachte ihr einmal wöchentlich die Kommunion. Diese düstere Witwe impfte ihren Kindern die Vorstellung ein, die Welt sei ein Tal der Tränen und der einzige Sinn unseres Daseins das Leiden. Zur Bewegungslosigkeit verdammt, saß sie in ihrem Sessel und kanzelte das Leben anderer Leute ab; nichts entging ihren kleinen Falkenaugen und ihrer prophetischen Zunge. Als Das Geisterhaus verfilmt wurde, verfrachtete man für diese Rolle eine Schauspielerin von der Größe eines Walfischs aus England in die Studios nach Kopenhagen, nachdem man im Flugzeug etliche Sitze ausgebaut hatte, um Platz für ihre unglaubliche Leibesfülle zu schaffen. Sie erscheint kaum einen Wimpernschlag lang auf der Leinwand, hinterläßt aber gleichwohl einen bleibenden Eindruck.Im Gegensatz zu Doña Ester und ihren Nachkommen, steifen und ernsten Leuten, waren die Verwandten aus der Familie Barros lebenslustig, überschäumend, verschwenderisch, leicht entflammbar und wie dafür geschaffen, auf Pferde zu wetten, Musik zu machen und Polka zu tanzen. (Das Tanzen ist unter den Chilenen, denen es im allgemeinen an Rhythmusgefühl mangelt, wenig verbreitet. Wie heilsam es sein kann, war eine meiner großen Entdeckungen in Venezuela, wohin ich 1975 emigrierte. Dort müssen nur drei Leute zusammentreffen, schon trommelt einer oder spielt Gitarre, und die anderen beiden tanzen. Dieser Therapie hält
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