Mein erfundenes Land
vielversprechende Zukunft zu haben schien. Der Mann bewies ein gutes Gespür, binnen weniger Jahre verwandelte sich Providencia in die schickste Wohngegend der Hauptstadt, für einige Zeit jedenfalls, bis die Mittelklasse die Hänge der Hügel hinaufzuklettern begann und die wirklich Reichen in die Kordillere der Anden vorstießen, in Regionen, wo der Kondor nistet.Heute erstickt Providencia im Verkehrschaos, in einem Gewühl von Geschäften, Büros und Restaurants, und nur noch einige betagte Mieter wohnen dort in altersschwachen Apartmenthäusern, aber zur Zeit meines Großvaters grenzte das Viertel an Ländereien, wo die betuchten Familien kleine Gehöfte für den Sommer besaßen, die Luft rein war und das Leben bukolisch. Von unserem Haus in Providencia werde ich später erzählen. Kehren wir zunächst zurück zu meiner Familie.
Chile ist ein modernes Land mit fünfzehn Millionen Einwohnern, die Stammesmentalität treibt jedoch weiter Blüten. An ihr hat sich trotz der Bevölkerungsexplosion kaum etwas geändert, vor allem auf dem Land schottet sich jede Familie in ihrem kleinen oder größeren Kreis ab. Außerdem teilt sich die Bevölkerung in Klüngel mit gemeinsamen Interessen oder Weltanschauungen. Die Mitglieder eines solchen Klüngels sehen sich ähnlich, kleiden sich gleich, denken und handeln, als stammten sie alle aus derselben Produktserie, protegieren einander naturgemäß und schließen alle anderen aus. Da sind beispielsweise die Landwirte (das heißt die Grundbesitzer, nicht die einfachen Bauern), die Ärzte, die Politiker (gleich welcher Partei), die Unternehmer, das Militär, die Lastwagenfahrer und letztlich alle und jeder. Über diesen Klüngeln steht die Familie, unverletzlich und heilig, niemand entrinnt seinen Pflichten ihr gegenüber. Ein Beispiel: Onkel Ramón ruft mich zu Hause in Kalifornien an, um mir mitzuteilen, daß ein Onkel dritten Grades, den ich nicht kenne, gestorben ist und eine mittellose Tochter zurückgelassen hat. Das Mädchen möchte Krankenschwester werden, kann jedoch die Ausbildung nicht bezahlen. Als Stammesältestem fällt Onkel Ramón nun die Aufgabe zu, sich mit jedem in Verbindung zu setzen, der mit dem Verstorbenen durch Blutsbande verknüpft ist, angefangen bei den nahen Verwandten bis hin zu den fernsten, um die Ausbildung der zukünftigen Krankenschwester zu finanzieren.Sich zu verweigern wäre eine schändliche Tat, an die man sich noch Generationen später erinnern würde. Da der Familie bei uns ein so hoher Stellenwert zukommt, habe ich meine als roten Faden für dieses Buch gewählt. Wenn ich mich also über eines ihrer Mitglieder ein wenig verbreite, so hat das sicher einen Grund, und sei es auch nur, daß ich mich selbst dieser Blutsbande vergewissern möchte, die mich zugleich an mein Land binden. Meine Verwandten werden dazu dienen, bestimmte Tugenden und Untugenden des chilenischen Charakters zu illustrieren. Als wissenschaftliche Methode mag das fragwürdig sein, aus dem Blickwinkel der Schriftstellerin birgt es jedoch manchen Vorteil.
Großvater Agustín, der aus einer kleinen, durch den frühen Tod des Vaters verarmten Familie stammt, verliebte sich in das Mädchen Rosa Barros, deren Schönheit gerühmt wurde, aber sie starb vor der Hochzeit unter ungeklärten Umständen. Geblieben sind von ihr nur ein paar sepiafarbene, vom Nebel der Zeit vergilbte Fotografien, auf denen man ihre Züge kaum erahnen kann. Jahre nach ihrem Tod vermählte sich mein Großvater mit Isabel, Rosas jüngerer Schwester. In jener Zeit kannte innerhalb einer bestimmten sozialen Schicht in Santiago jeder jeden, und wenngleich Hochzeiten nicht wie in Indien arrangiert waren, so waren sie doch stets Angelegenheiten der ganzen Familie. Da ihn die Barros schon einmal als Bräutigam für eine ihrer Töchter akzeptiert hatten, erschien es meinem Großvater nur folgerichtig, daß sie es auch ein zweites Mal tun würden.
In jungen Jahren war Großvater Agustín schlank, hatte eine Adlernase, trug den umgeschneiderten schwarzen Anzug seines verstorbenen Vaters und wirkte förmlich und stolz. Er entstammte einer alten kastilisch-baskischen Familie, war aber anders als seine Verwandten mittellos. An seiner Herkunft war nichts zu bemäkeln, nur sein Bruder Jorge gab Anlaß zu Gerede, ein stattlicher junger Mann,elegant wie ein Märchenprinz, dem eine glänzende Zukunft vorausgesagt wurde und der, begehrt von etlichen jungen Damen im heiratsfähigen Alter, sein Herz ausgerechnet an eine
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