Mein erfundenes Land
selbst nach ihrem Tod noch umgaben.
Großvater Agustín war ein robuster Mann und stark wie ein Bär, obwohl er mit zwei unterschiedlich langen Beinen zur Welt gekommen war. Deswegen einen Arzt zu konsultieren ist ihm nie in den Sinn gekommen, er ging lieber zum »Einrichter«. Das war ein Blinder, der sich um die Beine derim Reitclub verunglückten Pferde kümmerte und mehr von Knochen verstand als jeder Traumatologe. Mit den Jahren verschlimmerte sich Großvaters Hinken, er bekam Arthritis, und seine Wirbelsäule verkrümmte sich, so daß ihm jede Bewegung zur Qual wurde, aber ich habe ihn nie über seine Schmerzen oder Nöte klagen hören, wenngleich er wie jeder Chilene, der auf sich hält, über alles Sonstige klagte. Er rang gegen die Marter seiner geschundenen Knochen mit Händen voller Aspirin und langen Schlucken Wasser. Erst recht spät entdeckte ich, daß es gar kein unschuldiges Wasser war, sondern Gin, den er soff wie ein Pirat, was aber weder seine Contenance noch seine Gesundheit beeinträchtigte. In seinem langen Leben hat sich nicht eine einzige Schraube in seinem Kopf gelockert. Durch die Schmerzen fühlte er sich nicht von seinen Pflichten als Kavalier entbunden, und bis ans Ende seiner Tage, als er nur noch Haut und Knochen war, rappelte er sich unter Mühen aus seinem Lehnstuhl hoch, um den Damen zur Begrüßung und zum Abschied die Hand zu geben.
Auf meinem Schreibtisch steht sein Foto. Er sieht aus wie ein baskischer Bauer. Das Bild zeigt ihn im Profil mit einer schwarzen Baskenmütze auf dem Kopf, die seine Adlernase und den entschlossenen Ausdruck auf seinem zerfurchten Gesicht unterstreicht. Er lebte fast ein Jahrhundert, gewappnet mit Klugheit und gestärkt durch Erfahrung. Als er starb, war sein dichtes Haar schlohweiß und der blaue Blick seiner Augen scharf wie in seiner Jugend. Wie schwer ist das Sterben! sagte er einmal zu mir, als er der Schmerzen seiner Knochen schon sehr überdrüssig war. Er redete in Sprichwörtern, kannte Hunderte Volksmärchen und konnte lange Gedichte aus der Erinnerung rezitieren. Diesem wundervollen Mann verdanke ich die Gabe der Disziplin und die Liebe zur Sprache, ohne die ich mich heute nicht dem Schreiben widmen könnte. Er lehrte mich auch, die Natur zu betrachten und die Landschaft Chiles zu lieben. Er sagte immer, wiedie Römer zwischen Statuen und Brunnen lebten, ohne sie wahrzunehmen, lebten wir Chilenen im beeindruckendsten Land der Erde, ohne uns dessen bewußt zu sein. Wir nehmen die stumme Gegenwart der beschneiten Gipfel nicht wahr, nicht die schlafenden Vulkane und endlosen Bergketten, die uns in einer monumentalen Umarmung umfangen; wir schauen nicht staunend auf die wütende Gischt des Pazifiks, der sich an unseren Klippen bricht, und nicht auf die stillen Seen des Südens und ihre rauschenden Kaskaden; wir stehen nicht ehrfürchtig wie Pilger vor unseren tausend Jahre alten heimischen Wäldern, vor der Mondlandschaft im Norden, den fruchtbaren Ebenen der araukanischen Flüsse oder den blauen Gletschern, in denen die Zeit zersplittert ist.
Wir reden über die vierziger und fünfziger Jahre… Wie lange ich schon lebe, du lieber Himmel! Altern ist ein langsamer und hinterhältiger Prozeß. Manchmal vergesse ich, daß die Zeit vergeht, weil ich innerlich noch keine dreißig bin, aber meine Enkel stoßen mich unweigerlich mit der Nase auf die harte Wirklichkeit, wenn sie mich fragen, ob es »zu meiner Zeit« schon Strom gegeben habe. Eben diese Enkel nehmen an, in meinem Kopf befinde sich ein Ort, in dem die Figuren meiner Bücher ihre Geschichten erleben. Erzähle ich ihnen von Chile, glauben sie, ich spräche von diesem erfundenen Ort.
Eine Blätterteigtorte
Wie sind wir Chilenen? Es fällt mir schwer, Ihnen das zu erklären, und doch erkenne ich einen Landsmann aus fünfzig Metern Entfernung auf den ersten Blick. Ich begegne auch überall welchen. In einem heiligen Tempel in Nepal, im Amazonasurwald, bei einem Karnevalsumzug in New Orleans, über den gleißenden Eisflächen Islands, wo immer Sie wollen, gibt es einen Chilenen mit seiner unverwechselbaren Art zu gehen und seinem leicht singenden Tonfall. Obwohl uns auf der Länge unserer schlanken Heimat Tausende Kilometer voneinander trennen, sind wir uns hartnäckig ähnlich. Wir teilen dieselbe Sprache und vergleichbare Verhaltensweisen. Einzige Ausnahmen sind die Angehörigen der Oberschicht, die ohne große Umwege von Europäern abstammen, und die Indianer – Aymara und einige
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