Mein erfundenes Land
Gelegenheit, meine Eltern zu sehen, nicht entgehen lassen. Also vergaß ich das mir selbst gegebene Versprechen, Wurzeln zu schlagen und um keinen Preis mehr ins Ausland zu reisen, wir packten die Koffer und brachen auf nach Europa. Das war eine glänzende Entscheidung, nicht zuletzt, weil ich Kurse über Rundfunk- und Fernsehwesen besuchen und mein Französisch auffrischen konnte, das ich seit meiner Zeit im Libanon nicht mehr benutzt hatte. In diesem Jahr entdeckte ich die Frauenbewegung und begriff, daß ich nicht die einzige Hexe auf der Welt war; wir waren viele.
In Europa wußten die Leute damals kaum etwas über Chile; in aller Munde war das Land erst vier Jahre später wegen der Wahl von Salvador Allende, dann erneut durch den Militärputsch von 1973 und die darauf folgenden Menschenrechtsverletzungen und schließlich noch einmal 1998, als der Ex-Diktator in London verhaftet wurde. Unser Land macht nur mit großen politischen Umbrüchen Schlagzeilen und taucht sonst nur kurz in der Presse auf, wenn es mal wieder ein Erdbeben gibt. Fragte man mich, wo ich herkam, mußte ich das lange erklären und Karten zeichnen, bis man mir glaubte, daß Chile nicht in Zentralasien, sondern im Süden Amerikas liegt. Wegen des Namens wurde es oft mit China verwechselt. Das belgische Bild einer ehemaligen Kolonie war von Afrika geprägt, und man wunderte sich, daßmein Mann aussah wie ein Engländer und ich nicht schwarz war; zuweilen fragte man, wieso ich nicht die landestypische Tracht trüge, und dachte dabei vielleicht an die Aufmachung von Carmen Miranda in ihren Hollywoodfilmen: getupfte Röcke und ein Tutti-Frutti auf dem Kopf. In einem klapprigen Volkswagen fuhren wir durch Europa von Skandinavien bis in den Süden Spaniens, schliefen im Zelt und ernährten uns von Würstchen, Pferdefleisch und Pommes frites. Es war ein Jahr des entfesselten Herumreisens.
1966 kehrten wir mit unserer Tochter Paula, die mit ihren drei Jahren druckreife Bandwurmsätze sprach und zu einer Expertin für Kathedralen geworden war, und mit Nicolás in meinem Bauch nach Chile zurück. Verglichen mit Europa, wo man überall langhaarige Hippies sah, die Studenten revoltierten und die sexuelle Befreiung gefeiert wurde, war Chile sterbenslangweilig. Wieder fühlte ich mich fremd, aber ich erneuerte mein Versprechen, Wurzeln zu schlagen und mich nicht mehr wegzubewegen.
Kaum war Nicolás auf der Welt, begann ich wieder zu arbeiten, nun für eine Frauenzeitschrift, die Paula hieß und ganz neu auf den Markt gekommen war. Es war die einzige Publikation, die sich dem Feminismus verpflichtet fühlte und Themen zur Sprache brachte, die nie zuvor erörtert worden waren, wie etwa Ehescheidung, Empfängnisverhütung, Gewalt gegen Frauen, Ehebruch, Abtreibung, Drogen, Prostitution. Bedenkt man, daß man damals das Wort Chromosom nicht aussprechen konnte, ohne rot zu werden, waren wir tollkühn bis lebensmüde.
Chile ist ein bigottes Land, verschämt und genierlich, wenn es um Sinnlichkeit geht, und für diese Form der Prüderie haben wir sogar einen eigenen Ausdruck: Wir sind »cartuchos« – Zimperliesen. Außerdem wird mit zweierlei Maß gemessen. Männern wird Promiskuität nachgesehen, aber die Frauen müssen tun, als wären sie an Sex nicht interessiert, sondern nur an Liebe und schöneren Gefühlen,obwohl sie sich eigentlich dieselben Freiheiten erlauben wie die Männer, denn mit wem sollten die es sonst tun? Mädchen dürfen das Spiel der Verführung aber nie offen mitspielen. Sie müssen dafür sorgen, daß sie als »schwierig« gelten, weil dadurch angeblich das Interesse des Anwärters erhalten bleibt und sie geachtet werden, während man sie andernfalls mit wenig schmeichelhaften Attributen belegt. Das ist auch eins unserer Rituale, um die Wirklichkeit zu bemänteln, ein weiterer Ausdruck der Scheinheiligkeit, denn tatsächlich gibt es in Chile so viele Ehebrüche, Schwangerschaften von Minderjährigen, uneheliche Kinder und Abtreibungen wie in jedem anderen Land. Eine meiner Freundinnen kümmert sich als Gynäkologin um die Betreuung unverheirateter schwangerer Mädchen und versichert, es seien kaum je Studentinnen darunter. Ihre Schützlinge kommen aus Familien der untersten Einkommensschichten, in denen die Eltern viel mehr Gewicht auf die Ausbildung und die Zukunftschancen ihrer Söhne als auf die ihrer Töchter legen. Diese Mädchen haben keine Pläne, ihre Zukunft ist grau, sie gehen nicht zur Schule und haben kein Selbstwertgefühl;
Weitere Kostenlose Bücher