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Mein erfundenes Land

Mein erfundenes Land

Titel: Mein erfundenes Land Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Isabel Allende
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ließe, ein schwammiger Begriff,der nichts darüber sagt, ob man einen spärlichen Tageslohn verdient oder einen Knochen für die Suppe bekommt. Ich besuchte diese Siedlungen öfter, anfangs zusammen mit befreundeten Priestern, um irgendwie zu helfen, und wenig später, als der Feminismus und die politische Unruhe mich zwangen, flügge zu werden, weil ich etwas lernen wollte.
    Zwei der drängendsten Probleme, die aus der Hoffnungslosigkeit erwuchsen, waren der Alkoholismus und die Gewalt in den Familien. Oft begegnete ich Frauen mit zerschundenen Gesichtern. Mein Mitgefühl lief ins Leere, denn sie hatten immer eine Entschuldigung für den Täter parat: »Er war betrunken«, »er hat sich aufgeregt«, »er war eifersüchtig«, »daß er mich schlägt, beweist doch, daß er mich liebt«, »was habe ich bloß getan, daß er so ausgerastet ist…?« Man hat mir versichert, daß sich daran trotz aller Kampagnen zur Gewaltprävention kaum etwas geändert hat. In einem sehr populären Tango wartet der Mann, bis ihm die Seine einen Mate gekocht hat, und dann »verpaßte er ihr vierunddreißig Messerstiche«. Mittlerweile ist die Polizei geschult, in Wohnungen einzudringen, ohne darauf zu warten, daß man ihr freundlich die Tür öffnet oder eine Leiche mit vierunddreißig Messerstichen aus dem Fenster hängt, aber es bleibt noch viel zu tun. Und wie die Kinder verdroschen werden! Ständig liest man in der Zeitung über Kinder, die grauenhaft mißhandelt oder von ihren Eltern totgeprügelt wurden. Die Interamerikanische Entwicklungsbank konstatiert, daß Lateinamerika nach Afrika die gewalttätigste Region der Erde ist. Die Gewalt in der Gesellschaft beginnt in den Familien; man kann die Kriminalität auf der Straße nicht bekämpfen, wenn man nicht gegen die Mißhandlungen in den Familien vorgeht, denn zu oft werden geschlagene Kinder zu gewalttätigen Erwachsenen. Heute redet man darüber, die Presse bringt die Fälle an die Öffentlichkeit, es gibt Aufklärungsprogramme, Rückzugsräumeund Polizeischutz für die Opfer, aber damals wurde das Thema totgeschwiegen.
    In den Siedlungen gab es ein Klassenbewußtsein, man war stolz, zum Proletariat zu gehören, was mich überraschte, weil ich geglaubt hatte, ganz Chile neige zum Aufsteigertum. Erst mit der Zeit begriff ich, daß das ein Kennzeichen der Mittelklasse war; die Armen stellten sich noch nicht einmal vor, sie könnten ihre Position verbessern, das Überleben nahm sie ganz in Anspruch. In den sechziger Jahren politisierten sich die Bewohner, sie organisierten sich, und die Siedlungen wurden zum Nährboden der Linksparteien. 1970 waren sie entscheidend für die Wahl von Salvador Allende, und deshalb hatten sie während der Militärdiktatur unter den schlimmsten Repressionen zu leiden.
    Ich nahm den Journalismus sehr ernst, auch wenn meine Kollegen von damals meinen, ich hätte meine Reportagen erfunden. Ich habe sie nicht erfunden, nur ein bißchen übertrieben. Aus jener Zeit sind mir einige Marotten geblieben: Noch heute mache ich Jagd auf Neuigkeiten und Geschichten und habe stets Stift und Notizblock in der Handtasche, um aufzuschreiben, was mir interessant erscheint. Was ich damals gelernt habe, hilft mir heute beim Schreiben: unter Druck zu arbeiten, Interviews zu führen, zu recherchieren, die Sprache wirkungsvoll einzusetzen. Ich vergesse nicht, daß ein Buch kein Selbstzweck ist. Genau wie eine Zeitung oder Zeitschrift ist auch ein Buch ein Mittel zur Kommunikation, deshalb versuche ich den Leser am Schlafittchen zu packen und bis zum Ende nicht mehr loszulassen. Natürlich gelingt mir das nicht immer, der Leser schlägt manchen Haken. Wer dieser Leser ist? Als die Nordamerikaner in Panama den in Ungnade gefallenen General Noriega festnahmen, fanden sie zwei Bücher bei ihm: die Bibel und Das Geisterhaus . Niemand weiß, für wen er schreibt. Ein Buch ist wie eine Flaschenpost, die man ins Meer wirft inder Hoffnung, sie möge anderswo angespült werden. Ich bin sehr dankbar, wenn jemand sie findet und liest, noch dazu jemand wie Noriega.
    Unterdessen war Onkel Ramón zum Botschafter Chiles bei den Vereinten Nationen in Genf bestellt worden. Die Briefe an meine Mutter brauchten nicht mehr so lange wie in die Türkei, und ab und an konnten wir sogar telefonieren. Als unsere Tochter Paula anderthalb Jahre alt war, bekam mein Mann ein Stipendium für ein Ingenieursstudium in Belgien. Auf der Landkarte lag Brüssel gleich bei Genf, und ich wollte mir die

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