Mein erfundenes Land
kaltes Wasser ins Gesicht und Schnaps in den Rachen schüttet, bis Sie wieder zu sich kommen; dann werden Sie genötigt, irgendwelche Pillen zu schlucken, die eine ältere Dame aus ihrer Handtasche zieht, weil »eine Freundin häufig solche Anfälle hat, und dieses Mittel hervorragend ist«. Ein Chor von Experten wird Ihren Zustand in klinischer Fachsprache diagnostizieren, weil jeder einigermaßen zurechnungsfähige Bürger sich mit Medizin bestens auskennt. So wird etwa einer der Experten die Obstruktion einer Hirnklappe konstatieren,ein anderer den Verdacht auf eine doppelte Verstauchung der Lungenflügel äußern und ein dritter sagen, es liege ein Durchbruch der Bauchspeicheldrüse vor. Binnen weniger Minuten schreien die Umstehenden sich an, bis einer, der unterdessen zur Apotheke gelaufen ist, zurückkommt und Ihnen vorsorglich eine Penizillinspritze verabreicht. Also, wenn Sie Ausländer sind, würde ich Ihnen empfehlen, nicht in einem chilenischen Lebensmittelladen in Ohnmacht zu fallen, denn das kann ins Auge gehen.
Unser Verhältnis zu Medikamenten ist sehr unverkrampft, und so bekamen etwa alle Passagiere eines Kreuzfahrtschiffs, auf dem wir die traumhafte Laguna de San Rafael im Süden besuchten, eines Abends zum Nachtisch Schlaftabletten verabreicht. Während des Essens ließ der Kapitän uns wissen, in den nächsten Stunden stehe eine recht bewegte Passage bevor, und danach ging seine Frau von Tisch zu Tisch und verteilte einzelne Tabletten, nach deren Wirkung niemand zu fragen wagte. Wir schluckten sie gehorsam, und zwanzig Minuten später lagen wir alle in dornröschengleichem Tiefschlaf. Mein Mann meinte, in den Vereinigten Staaten hätte man den Kapitän und seine Frau wegen Betäubung der Passagiere vor den Kadi gezerrt. In Chile waren wir ihnen einfach sehr dankbar.
Früher führte jede Unterhaltung über kurz oder lang zum Thema Politik; zwei Chilenen in einem Raum bedeutete, daß drei Parteien anwesend waren. Meines Wissens gab es bei uns zeitweise über ein Dutzend sozialistischer Splitterparteien; selbst die Rechte, die überall auf der Welt ein monolithischer Block ist, war bei uns gespalten. Aber heute läßt die Politik uns kalt, und wenn wir über sie reden, dann nur, um auf die Regierung zu schimpfen, was bei uns ein beliebter Zeitvertreib ist. Es wird nicht mehr mit religiösem Eifer gewählt wie einst, als sich Sterbende auf der Bahre zur Wahl tragen ließen, um ihrer Bürgerpflicht zu genügen.Auch hört man nicht mehr von Schwangeren, die in den Wahllokalen niederkommen. Die jungen Leute tragen sich nicht in die Wählerlisten ein, 84,3 Prozent fühlen sich von den Parteien nicht vertreten, und ein noch höherer Anteil erklärt sich zufrieden damit, an der Lenkung des Landes nicht mitzuwirken. Das scheint ein Phänomen der westlichen Demokratien zu sein. Die jungen Leute interessieren sich nicht für verknöcherte politische Strukturen, die sich aus dem 19. Jahrhundert in die Gegenwart hinübergerettet haben; sie wollen Spaß haben und möglichst lange in der Pubertät bleiben, bis sie, sagen wir, vierzig oder fünfzig sind. Aber seien wir nicht ungerecht, ein paar setzen sich auch für den Umweltschutz ein, interessieren sich für Wissenschaft und neue Technologien; man hört sogar, manche seien über die Kirchen sozial aktiv.
Statt über Politik redet die breite Masse der Chilenen heute über zwei andere Themen: über Geld, das an allen Ecken fehlt, und über Fußball, mit dem man sich tröstet. Ob Dreikäsehoch, Doktorand oder Hafenarbeiter, jeder kennt die Namen sämtlicher Fußballspieler in der Geschichte Chiles und hat zu jedem von ihnen eine Meinung. Während der Spiele sind die Straßen wie leergefegt, weil alle paralysiert vor dem Fernseher sitzen. Dieser Sport gehört zu den wenigen menschlichen Aktivitäten, die einen Beweis für die Relativität der Zeit liefern: Man kann den Torwart für eine halbe Minute in der Luft festfrieren lassen, dieselbe Szene etliche Male in Zeitlupe vorwärts und rückwärts sehen und, dank der Zeitverschiebung, in Santiago ein Spiel zwischen Ungarn und Deutschland verfolgen, ehe es ausgetragen wird.
Bei uns daheim waren, wie im Rest des Landes, Dialoge unüblich; wenn man sich traf, wurden mehrere Monologe gleichzeitig gehalten, ohne daß irgendwer irgendwem zuhörte, ein Stimmenwirrwarr und statisches Rauschen wie auf einem Kurzwellensender. Es ging nicht etwa darum, herauszufinden, was die anderen dachten, man wollte nureinmal mehr die
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