Mein erfundenes Land
manche werden aus reiner Unwissenheit schwanger. Sie fallen aus allen Wolken, wenn sie entdecken, was mit ihnen los ist, weil sie sich doch wörtlich daran gehalten haben, mit niemandem »ins Bett zu gehen«. Was im Stehen hinter einer Tür passiert, zählt nicht.
Seit dem Sturmangriff der Zeitschrift Paula auf die prüde chilenische Gesellschaft sind über dreißig Jahre vergangen, und niemand kann leugnen, daß sie wirkte wie ein Hurrikan. Jede einzelne ihrer streitbaren Reportagen brachte meinen Großvater an den Rand des Herzstillstands; wir schrien uns an, aber am Tag darauf besuchte ich ihn wieder, und er empfing mich, als wäre nichts geschehen. Zu Anfang wurden die feministischen Ideen, die heute Allgemeingut sind, als Spinnereien abgetan, und die meisten chilenischen Frauen meinten, sie hätten sie nicht nötig, weil sie doch zu Hausesowieso Königinnen seien und es nur natürlich sei, daß die Männer außerhalb das Sagen hatten, wie von Gott und der Natur vorgesehen. Eine Schlacht mußte geschlagen werden, bis sie begriffen, daß sie nirgendwo Königinnen waren. Bekannte Feministinnen gab es kaum, ein halbes Dutzend, wenn’s hochkommt. Ich darf gar nicht daran denken, welchen Anfeindungen wir ausgesetzt waren! Mir wurde klar, daß die Erwartung, respektiert zu werden, weil du Feministin bist, etwa so realistisch ist wie die, zu erwarten, daß der Stier nicht auf dich losgeht, weil du Vegetarierin bist.
Ich hatte auch wieder eine Fernsehsendung, diesmal eine humoristische, durch die ich leidlich bekannt wurde wie jeder, der regelmäßig auf dem Bildschirm zu sehen ist. Bald standen mir alle Türen offen, die Leute grüßten mich auf der Straße, und zum ersten Mal in meinem Leben fühlte ich mich rundum wohl an einem Ort.
Der diskrete Charme der Bourgeoisie
Häufig frage ich mich, was Heimweh eigentlich ist. Bei mir ist es weniger der Wunsch, in Chile zu leben, als vielmehr der, die Sicherheit zurückzugewinnen, mit der ich mich dort bewege. Chile ist mein Terrain. Jedes Volk hat seine Gepflogenheiten, seine Marotten und Komplexe. Die Eigenheiten der Chilenen kenne ich aus dem Effeff, nichts überrascht mich, ich kann die Reaktionen der anderen voraussehen, weiß ihre Gesten, ihr Schweigen, ihre höflichen Floskeln und Anspielungen zu deuten. Nur in Chile fühle ich mich sozial aufgehoben, denn auch wenn ich mich selten so verhalte, wie es von mir erwartet wird, weiß ich doch, was sich gehört, und werde von meinen guten Manieren fast nie im Stich gelassen.
Als ich mit fünfundvierzig Jahren und frisch geschieden dem Ruf meines impulsiven Herzens folgte und in die Vereinigten Staaten emigrierte, staunte ich vor allem über den unerschütterlichen Optimismus der Nordamerikaner, die sich darin so deutlich von den Menschen im Süden des Kontinents unterscheiden. Dort rechnet man immer mit dem Schlimmsten, zu dem es natürlich auch kommt. In den Vereinigten Staaten hingegen ist das Recht, nach Glück zu streben, in der Verfassung verankert, was an jedem anderen Ort der Welt eine peinliche Anmaßung wäre. Auch glauben die Nordamerikaner offenbar, sie hätten ein Recht auf fortwährende Zerstreuung, und wenn ihnen eines dieser Rechte versagt bleibt, fühlen sie sich betrogen. Im Rest der Welt geht man hingegen davon aus, daß das Leben im allgemeinen hart und eintönig ist, und so wird auch der geringste Anlaß zur Freude und jede noch so bescheidene Ablenkung nach Kräften ausgekostet.
In Chile ist es fast unhöflich, wenn man übermäßig zufrieden wirkt, weil das die weniger Begünstigten vor den Kopf stoßen kann. Deshalb lautet die korrekte Antwort auf die Frage »Wie geht’s?« »Es geht so.« Das ermöglicht es, sich in die Lage des Gesprächspartners einzufühlen. Was, wenn dieser erzählt, bei ihm habe man eben eine unheilbare Krankheit festgestellt? Wäre es dann nicht sehr geschmacklos, riebe man ihm unter die Nase, wie prächtig man sich selbst gerade fühlt? Hat der andere aber erst vor ein paar Tagen eine gute Partie geheiratet, darf man das eigene Glück getrost eingestehen und muß nicht fürchten, ihn zu verletzen. Das steckt hinter diesem »Es geht so«, das ausländische Besucher häufig ein wenig verwirrt: Es gibt einem Zeit, vorzufühlen und keine Taktlosigkeit zu begehen. In Studien über die chilenische Gesellschaft heißt es, vierzig Prozent der Bevölkerung litten unter Depressionen, vor allem die chilenischen Frauen, die ja die Männer ertragen müssen. Auch sollte man nicht
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