Mein erfundenes Land
vergessen, daß unser Land, wie schon gesagt, von schweren Naturkatastrophen heimgesucht wird und es viele arme Menschen dort gibt. Mit dem eigenen Glück sollte man folglich zurückhaltend sein. Einer meiner Verwandten antwortete auf die Frage nach seinem Befinden stets mit »Es geht so«, obwohl er zweimal den Hauptgewinn in der Lotterie eingestrichen hatte. Es lohnt sich, rasch zu erzählen, wie es zu diesem Wunder kam. Er war ein guter Katholik und wollte daher von Empfängnisverhütung nichts wissen. Als sein siebtes Kind zur Welt kam, ging er in die Kirche, kniete vor dem Altar nieder und sprach verzweifelt unter vier Augen mit seinem Schöpfer: »Vater, du hast mir sieben Kinder geschickt, vielleicht könntest du mir auch helfen, sie zu ernähren…« Und er zog eine lange, sorgsam zusammengestellte Liste mit seinen Ausgaben aus der Jackentasche. Gott hörte sich die Argumente seines frommen Dieners geduldig an und enthüllte ihm sodann im Traum die Nummer des Hauptgewinns in der Lotterie. Die Millionenreichten für etliche Jahre, aber während die Familie weiter wuchs, wuchs auch die Inflation, die damals in Chile grassierte, und fraß das Kapital. Als das elfte und letzte seiner Kinder geboren wurde, ging der Mann erneut in die Kirche, um Gott seine Situation zu schildern, der sich noch einmal erweichen ließ und ihm einen erhellenden Traum schickte. Ein dritter Versuch schlug fehl.
In meiner Familie spielte Glücklichsein keine Rolle. Wie die überwiegende Mehrheit der Chilenen wären auch meine Großeltern aus allen Wolken gefallen, hätte man ihnen erzählt, daß manche Menschen Geld für eine Therapie ausgeben, um den eigenen Kummer zu bewältigen. Für sie war das Leben schwierig, und wer etwas anderes behauptete, ein Narr. Zufrieden konnte man sein, wenn man sich redlich verhielt, eine Familie hatte, ehrbar war, sich aufopferte, lernte und etwas aus eigener Kraft erreichte. Eigentlich gab es in unserem Leben vieles, worüber man sich hätte freuen können, darunter wohl nicht zuletzt auch Liebe; aber über die wurde nicht gesprochen, eher wären wir vor Scham tot umgefallen. Gefühle strömten wortlos dahin. Anders als die meisten Chilenen berührten wir einander fast nie, und niemand verhätschelte die Kinder. Damals war es noch nicht wie heute üblich, jedes Tun der Kleinen wie eine begnadete Leistung in den Himmel zu loben; und keiner fürchtete, die Kinder könnten durch falsche Erziehung bleibenden Schaden nehmen. Zum Glück, muß man sagen, denn wäre ich behütet und unbeschwert aufgewachsen, worüber sollte ich heute schreiben? Deshalb habe ich auch versucht, meinen Enkeln die Kindheit so sauer wie möglich zu machen, denn sie sollen zu einfallsreichen Erwachsenen werden. Ihre Eltern wissen meine Bemühungen kein bißchen zu schätzen.
Wie man aussah, wurde in meiner Familie nicht zur Kenntnis genommen; meine Mutter versichert, daß sie hübsch sei, habe sie erst erfahren, als sie schon über vierzig war, weil dasnie jemand erwähnt hatte. Man darf sagen, daß wir in dieser Hinsicht originell waren, denn in Chile spielt das Aussehen eine wichtige Rolle. Jedes Gespräch zwischen zwei Frauen beginnt mit einem Kommentar zu Kleidung, Frisur oder gerade befolgter Diät. Wenn Männer über Frauen reden – hinter deren Rücken, versteht sich –, geht es einzig darum, wie sie aussehen, und die Kommentare sind im allgemeinen sehr abschätzig, wobei die Männer nicht ahnen, daß ihnen die Frauen das mit gleicher Münze heimzahlen. Was ich von meinen Freundinnen über Männer gehört habe, könnte einen Stein zum Erröten bringen. In meiner Familie galt es auch als unschicklich, über Religion zu reden, und vor allem über Geld, dafür waren Krankheiten fast das einzige, worüber man unentwegt sprach; sie sind in Chile das am meisten strapazierte Gesprächsthema. Wir sind Spezialisten für medizinische Ratschläge und Mittelchen, jeder hat stets ein Rezept parat. Ärzten wird mißtraut, weil die nicht an der Gesundheit ihrer Mitmenschen interessiert sein können, das liegt ja auf der Hand, deshalb suchen wir sie erst auf, nachdem wir alle Mittel, die uns von Freunden und Bekannten empfohlen wurden, erfolglos ausprobiert haben. Angenommen, Sie werden in der Tür eines Lebensmittelladens ohnmächtig. In jedem Land der Welt wird in einem solchen Fall der Rettungswagen gerufen, in Chile jedoch sind sofort mehrere Freiwillige zur Stelle, die Sie hochheben und hinter die Ladentheke tragen, wo man Ihnen
Weitere Kostenlose Bücher