Mein erfundenes Land
eine Illusion. Vielleicht hat es diesen Ort, nach dem ich mich zurücksehne, nie gegeben. Bei meinen Besuchen muß ich das wirkliche Chile mit dem sentimentalen Bild abgleichen, das mich fünfundzwanzig Jahre hindurch begleitet hat. Weil ich schon so lange im Ausland lebe, neige ich dazu, die Tugenden der Chilenen zu überzeichnen und ihre unangenehmen Züge zu vergessen. Ich vergesse den Standesdünkel und die Heuchelei der Oberschicht, vergesse, wie konservativ und machohaft der größte Teil der Gesellschaft ist, vergesse den erdrückenden Einfluß der katholischen Kirche. Ich bin entsetzt über die Ressentiments und die Gewalt, die auf dem Boden der ungleichen Lebensverhältnisse gedeihen. Aber mich rührt auch das Gute, das trotz allem nicht verschwunden ist, die spontane Vertrautheit, mit der wir uns begegnen, die herzlichen Küßchen zur Begrüßung, der schräge Humor, der mich immer zum Lachen bringt, die Freundschaft, die Hoffnung, die Schlichtheit, die Solidarität in Zeiten des Unglücks, das Mitgefühl, der unbezähmbare Mut der Mütter, die Langmutder armen Leute. Ich habe mir die Vorstellung von meinem Land wie ein Puzzle aus den Teilen zusammengesetzt, die zu meinem Entwurf paßten, und habe die anderen beiseite gelassen. Mein Chile ist poetisch und ärmlich, deshalb übersehe ich die Hinweise auf eine moderne und materialistische Gesellschaft, in der sich der Wert eines Menschen nach seinem redlich oder unredlich erworbenen Reichtum bemißt, und will überall Zeichen meines Landes von früher entdecken. Auch habe ich ein Bild von mir als Staatenloser oder, besser gesagt, als Angehöriger vieler Staaten erschaffen. Ich gehöre nicht einem, sondern vielen Territorien an oder vielleicht auch nur dem fiktiven Raum meiner Bücher. Ich versuche erst gar nicht herauszufinden, was von meiner Erinnerung auf wahren und was auf erfundenen Begebenheiten beruht, denn eine Grenze zwischen beidem zu ziehen übersteigt meine Kräfte. Meine Enkelin Andrea hat einmal in einem Schulaufsatz geschrieben: »Ich mochte die Phantasie meiner Großmutter.« Als ich fragte, was sie damit meinte, antwortete sie ohne Zögern: »Du erinnerst dich an Sachen, die nie passiert sind.« Tun wir das nicht alle? Es heißt, man könne das, was im Gehirn geschieht, wenn man sich etwas vorstellt, kaum von dem unterscheiden, was darin vorgeht, wenn man sich erinnert. Wer legt fest, was Wirklichkeit ist? Ist nicht alles subjektiv? Wenn Sie und ich demselben Ereignis beiwohnen, werden wir es unterschiedlich im Gedächtnis behalten und erzählen. Sprechen meine Brüder von unserer Kindheit, könnte man meinen, jeder hätte auf einem anderen Planeten gelebt. Das Gedächtnis wird von Gefühlen bestimmt; wir erinnern uns eher und lebhafter an Ereignisse, die uns bewegt haben, etwa an das Glück einer Geburt, die Freuden einer Liebesnacht, den Schmerz über den Verlust eines nahen Menschen, das Trauma einer Verletzung. Sprechen wir über die Vergangenheit, so beziehen wir uns auf diese Extreme – die guten und die schlechten – und blenden die riesige Grauzone des täglichen Einerleis aus.
Wäre ich nie von einem Land ins andere gewandert, wäre ich fest verankert im Schutz meiner Familie geblieben, hätte ich die Weltsicht und die Regeln meines Großvaters akzeptiert, ich hätte mein Dasein niemals neu erfinden und ausschmücken können, andere hätten es festgelegt, und ich wäre nur ein weiteres Glied in der langen Kette der Familie gewesen. Durch die Ortswechsel war ich gezwungen, meine Geschichte wieder und wieder neu zu justieren, und ich tat es überstürzt, merkte es fast nicht, weil mich das Leben von Tag zu Tag ganz in Anspruch nahm. Fast alle Leben ähneln sich und können in einem Tonfall erzählt werden, in dem man das Telefonbuch lesen würde, sofern man nicht beschließt, etwas Würze und Farbe hineinzubringen. Ich habe mich darum bemüht, den kleinen Begebenheiten meines Lebens Glanz zu verleihen, und so meine eigene Legende geschaffen, damit ich dereinst, wenn ich im Seniorenheim auf den Tod warte, etwas habe, womit ich die anderen alten Leutchen unterhalten kann.
Wie dieses hier schrieb ich mein erstes Buch im raschen Lauf der Finger über die Tasten, ohne einen Plan. Ich brauchte fast nichts zu recherchieren, denn ich trug es vollständig in mir, nicht im Kopf, sondern an einer Stelle in der Brust, wo es mich drückte, als wollte es mir beständig die Luft nehmen. Ich erzählte von einem Santiago aus der Zeit, als mein
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