Mein erfundenes Land
Großvater jung gewesen war, so als wäre ich damals geboren worden; wie es war, wenn die Gaslaternen entzündet wurden, ehe es Strom in der Stadt gab, wußte ich mit derselben Gewißheit, mit der ich das Los Hunderter Landsleute kannte, die in eben diesem Moment in chilenischen Gefängnissen einsaßen. Ich schrieb wie in Trance, als würde mir jemand diktieren, und habe immer behauptet, es sei eine Gefälligkeit des Gespensts meiner Großmutter gewesen, mir das Buch ins Ohr zu flüstern. Nur einmal noch wurde mir ein solches Geschenk aus einer anderen Dimension zuteil, als ich 1993 Paula schrieb. Damals sagte mir zweifellos der gütige Geistmeiner Tochter vor. Wer diese und manch andere Geister sind, die mit mir leben? Ich habe sie nie in Laken gehüllt durch die Flure meines Hauses schweben oder vergleichbar interessante Dinge tun sehen. Sie sind nur Erinnerungen, die mich überkommen und die Gestalt annehmen, weil ich sie immerzu liebkose. Das geschieht mir mit Menschen und auch mit Chile, diesem mythischen Land, nach dem ich mich so sehr gesehnt habe, daß es an die Stelle des tatsächlichen getreten ist. Dieser Ort in meinem Kopf, wie meine Enkel ihn nennen, ist die Bühne, auf der ich nach Belieben Dinge, Figuren und Situationen erstehen und verschwinden lassen kann. Einzig die Landschaft bleibt wahr und unverrückbar; in dieser majestätischen chilenischen Landschaft bin ich keine Fremde. Doch etwas beunruhigt mich an meiner Neigung, die Wirklichkeit zu verändern, die Erinnerung zu erfinden, weil ich nicht weiß, wohin mich das führt. Tue ich das etwa auch mit Menschen? Wenn ich für einen Augenblick meine Großeltern oder meine Tochter wiedersehen könnte, würde ich sie erkennen? Womöglich nicht, denn gerade weil ich mich ihrer in allem erinnern und sie lebendig erhalten möchte, verändere ich sie mit der Zeit und versehe sie mit Eigenschaften, die sie vielleicht nie besaßen; ich habe ihnen ein Schicksal zugeschrieben, das viel farbiger ist als das von ihnen erlebte. Gegen diese Neigung von mir bin ich machtlos, und letzten Endes entpuppte sie sich als großes Glück, denn jener Brief an meinen sterbenden Großvater rettete mich vor der Verzweiflung. Durch ihn fand ich eine Stimme und eine Möglichkeit, dem Vergessen, diesem Fluch der Vagabunden, ein Schnippchen zu schlagen. Vor mir öffnete sich der Weg in die Literatur, dem ich in den letzten zwanzig Jahren zuweilen strauchelnd gefolgt bin und den ich weiter zu gehen gedenke, solange meine geduldigen Leser mir ihr Ohr leihen.
Obwohl mir dieser erste Roman eine fiktive Heimat schenkte, sehnte ich mich weiter nach der anderen, dieich zurückgelassen hatte. Die chilenische Militärregierung stand wie ein Fels, und Pinochet regierte mit absoluter Macht. Die Wirtschaftspolitik der Chicago boys , wie die Schüler des Ökonomen Milton Friedman genannt wurden, war dem Land rücksichtslos aufgezwungen worden, anders hätte man sie niemals durchsetzen können. Die Unternehmer genossen fast uneingeschränkte Privilegien, während die Arbeiter der meisten Rechte beraubt waren. Von außen schien es, als sei an der Diktatur nicht zu rütteln, aber tatsächlich formierte sich im Innern ein mutiger Widerstand, der schließlich die Demokratie zurückerobern sollte. Dazu mußten die unzähligen Streitereien untereinander beigelegt und ein Bündnis geschaffen werden, die sogenannte »Concertación«, doch bis dahin sollten noch sieben Jahre vergehen. 1981, als ich mein erstes Buch schrieb, hielt das kaum jemand für möglich.
Bisher war mein Leben in Caracas, wo wir schon seit zehn Jahren wohnten, in völliger Anonymität verlaufen, aber durch meine ersten beiden Romane war ich schließlich auch hier keine Unbekannte mehr. Also kündigte ich endlich meine Arbeit an einer Schule und stürzte mich ganz in die Ungewißheit des Schreibens. Ich spielte mit dem Gedanken an einen neuen Roman, und diesmal sollte sein Schauplatz die Karibik sein; ich dachte, ich hätte mit Chile abgeschlossen und die Zeit sei reif, mir einen Platz in dem Land zu schaffen, das nach und nach meine Adoptivheimat geworden war. Bevor ich mit Eva Luna begann, mußte ich gewissenhaft recherchieren. Um den Duft einer Mango oder den Wuchs einer Palme zu beschreiben, mußte ich die Früchte auf dem Markt beschnüffeln und mir die Bäume auf der Plaza betrachten, was sich bei einem Pfirsich oder einer chilenischen Weide erübrigt hatte. Ich trage Chile so tief in mir, daß ich meine, es in- und auswendig
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