Mein erfundenes Land
getrennt, so wie wir, sind die Aussichten für eine gemeinsame Zukunft miserabel. Man muß schon Glück haben und sich einander sehr verbunden fühlen, sonst stirbt die Liebe.
Ich fand keine Arbeit als Journalistin. Was ich in Chile getan hatte, half mir auch deshalb wenig, weil die Exilanten ihre Lebensläufe aufzupolieren pflegten und man ihnen kaum noch etwas glaubte; es gab falsche Doktoren, die nur mit Mühe die Sekundarstufe geschafft hatten, und richtige Doktoren, die am Ende Taxi fuhren. Ich kannte keine Menschenseele, und wie im übrigen Lateinamerika geht auch dort ohne Beziehungen gar nichts. Ich mußte mir den Lebensunterhalt mit unbedeutenden Tätigkeiten verdienen, darunter nichts, was einer Erwähnung wert wäre. Ich begriff das Temperament der Venezolaner nicht, hielt ihren ausgeprägten Gleichheitssinn für schlechte Manieren, ihren Großmut für Überheblichkeit, ihre Impulsivität für Unreife. Ich kam aus einem Land, in dem die Gewalt institutionalisiert worden war, dennoch schockierte es mich, wie schnell die Venezolaner die Beherrschung verloren und handgreiflich wurden. (In einem Kino zog eine Frau einmal eine Pistole aus ihrer Handtasche, weil ich mich versehentlich auf ihren Platz gesetzt hatte.) Ich war mit den Gepflogenheiten nicht vertraut; so wußte ich beispielsweise nicht, daß man selten ein Nein zu hören bekommt, weil das als unhöflich empfunden wird, und deshalb sagen die Leute lieber: »Kommen Sie morgen wieder.« Ich suchte Arbeit, man befragte mich sehr freundlich, bot mir Kaffee an und verabschiedete mich mit einem festen Händedruck und einem »Kommen Sie morgen wieder«. Am nächsten Tag war ich wieder da, und alles ging von vorne los, bis ich mich schließlich geschlagen gab. Ich empfand mein Leben als gescheitert; ich war fünfunddreißig Jahre alt und glaubte, ich hätte nichts mehr zu erwarten, könne nur noch alt werden und aus Langeweile eingehen. Wenn ich jetzt an diese Zeit zurückdenke, begreife ich, daß es viele Möglichkeiten gegeben hätte, aber ich sah sie nicht; ich war unfähig, nach dem Rhythmus der anderen zu tanzen, war verängstigt und wie vernagelt. Anstatt mir einen Ruck zu geben und dieses Land, das mich großzügigaufgenommen hatte, kennen- und lieben zu lernen, war ich besessen von dem Gedanken an meine Rückkehr nach Chile. Vergleiche ich diese Erfahrung des Exils damit, wie es mir heute als Immigrantin geht, wird mir klar, daß das zwei vollkommen verschiedene Gemütslagen sind. Ins Exil geht man unter Zwang, flieht oder wird dazu getrieben, und man empfindet sich als Opfer, dem das halbe Leben gestohlen wurde; wer einwandert, stellt sich dem Abenteuer aus freien Stücken und fühlt sich als Herr über das eigene Leben. Aus dem Exil schaut man zurück und leckt sich die Wunden; der Einwanderer blickt nach vorn, bereit, die Chancen zu nutzen, die sich ihm bieten.
Die Chilenen in Caracas trafen sich, um Platten von Violeta Parra und Víctor Jara zu hören, tauschten Plakate von Allende und Che Guevara und wiederholten ein ums andere Mal dieselben Gerüchte aus der fernen Heimat. Bei jedem Treffen aßen wir Empanadas; ich entwickelte einen Widerwillen gegen sie, den ich bis heute nicht überwunden habe. Tag für Tag trafen neue Landsleute ein, die von schrecklichen Dingen berichteten und versicherten, die Diktatur werde jeden Moment stürzen, aber die Monate vergingen, und sie stürzte nicht nur nicht, sondern schien sogar trotz der Proteste im Innern und der gewaltigen internationalen Solidaritätsbewegung immer mehr zu erstarken. Inzwischen verwechselte niemand mehr Chile mit China oder fragte, warum wir keine Hüte mit Obstverzierung trugen; die Gestalt von Salvador Allende und die politischen Ereignisse hatten dem Land einen Platz auf der Weltkarte gesichert. Von der Junta war eine Fotografie im Umlauf, die berühmt wurde: Pinochet in der Mitte mit verschränkten Armen, dunkler Sonnenbrille und diesem markanten Unterkiefer einer Bulldogge – das fleischgewordene Klischee des lateinamerikanischen Tyrannen. Durch die strenge Pressezensur war den meisten Chilenen innerhalb des Landesnicht klar, daß es eine weltweite Solidaritätsbewegung gab. Ich hatte anderthalb Jahre unter dieser Zensur gelebt und nicht gewußt, daß der Name Allende außerhalb Chiles zu einem Symbol geworden war, deshalb war ich überrascht, mit wieviel Hochachtung man ihm begegnete. Leider halfen mir diese Respektsbezeigungen nicht, eine Arbeit zu finden, die ich so dringend
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