Mein Erzengel (German Edition)
Schriftsteller welcher Nationalität angehört. Da hab ich Blut und Wasser geschwitzt, natürlich weiß ich das nicht, vor dem Krieg war das egal, nach der Nationalität hat keiner gefragt. Da hab ich einfach geraten und mich bemüht, mir die Angst nicht anmerken zu lassen.»
«Und hast du alles richtig beantwortet?»
«Keine Ahnung. Zumindest hat er nicht mehr gebrüllt. Einmal habe ich sogar einen Witz gemacht, irgendeine ironische Bemerkung, ich weiß jetzt schon nicht mehr, was ich gesagt habe. Da hat er gelacht und mir eine Zigarette angeboten.»
Dann führten sie ihn ab und brachten ihn in ein einfaches Hotel, wo er die Nacht verbrachte, vor der Tür der Mann mit der Kalaschnikow. Am nächsten Tag ließen sie ihn laufen und sicherten ihm freies Geleit zu. Die Milizionäre an den Checkpoints seien über seine Durchfahrt informiert, sie würden ihm nichts tun. Aber dann wäre es fast anders gekommen. An einem der Checkpoints wurde er von einem schwerbewaffneten Bärtigen angehalten, der ihm befahl auszusteigen. Es war offensichtlich, dass er es auf Michaëls Wagen abgesehen hatte. Michaël reagierte instinktiv, ließ das Fenster hochschnellen und brauste los. Im Rückspiegel sah er noch, wie der Mann sein Gewehr hochriss und zielte. In letzter Sekunde rettete ihn eine Kurve.
Michaël nimmt einen großen Schluck. Ruth legt ihre Hand auf seine, er zieht die Hand weg.
Sie ertappt sich bei der Frage, was sie fühlen würde, wäre er erschossen worden.
«Einer hat mir eine Geschichte erzählt, die mir nicht mehr aus dem Kopf geht», fängt Michaël unvermittelt wieder zu reden an. «Er hat mit seinen Freunden gezecht und ist zu Hause volltrunken aufs Bett gefallen. Als er am nächsten Tag aufgewacht ist, hat er seine Frau und seine beiden Kinder mit durchschnittenen Kehlen vorgefunden. Manchmal träume ich davon.»
In dieser Nacht legt er sich zu Ruth ins Doppelbett. Zaghaft versucht sie, ihn zu berühren. Sein Fleisch ist weich. Er grunzt und dreht sich auf die andere Seite. Sie liegt noch lange wach, muss immer wieder an den nicht erfolgten Schuss denken. Es ist ihr, als sei sie selbst erschossen worden. Vor ihr ein Abgrund. Die Geborgenheit, in der sie es sich gemütlich eingerichtet hat, ist ihr weggeschossen worden. Wie kann sie ohne Michaël weiterleben? Sie wollten miteinander alt werden, er hat es ihr versprochen.
Am nächsten Tag darf sie im Transitzentrum helfen, Neuankömmlinge müssen registriert werden. Michaël und Ruth sitzen an der Stirnseite des Raumes nebeneinander am Tisch mit dem weißen Tischtuch, davor stehen die Leute Schlange, geduldig und still. Name, Vorname, Geburtsort und letzter Wohnort werden erfragt und in ein Formular eingetragen. Die Flüchtlinge sind unterwürfig wie auf einer Behörde, mit Behörden haben sie in letzter Zeit keine guten Erfahrungen gemacht. Ruth ist freundlich, lächelt, es ist das Geringste, was sie für die Leute tun kann. Dann vertut sie sich mit der fremden Sprache, trägt etwas in die falsche Rubrik ein.
«Hast du keine Augen im Kopf?», brüllt Michaël sie an, es schert ihn nicht, dass alle es hören. Er, der sie immer mit ausgesuchtem Respekt behandelt hat. Wenn einer von ihnen respektlos war, dann war es Ruth. Auch dass er so selten mit ihr schlafen wollte, hatte sie aggressiv gemacht.
Ihr erster Impuls ist aufstehen und gehen. Aber wo sollte sie hin? Er muss sie ins Hotel zurückfahren, sie ist auf ihn angewiesen. Sie sagt nichts und macht weiter. Lächeln kann sie jetzt nicht mehr. Nachdem die Menschenschlange abgearbeitet ist, treten sie schweigend die Rückreise an. Die Spannung zwischen ihnen ist unerträglich. «Stopf dir deinen Machtrausch in den Arsch oder sonst wohin, aber rede nicht so mit mir!», schreit Ruth ihn schließlich an. «Für mich bist du nicht Gott.»
Danach ist ihr leichter. Es ist das erste Mal, dass sie ihn angeschrien hat. Michaël schweigt.
5
Ein Jahr ist vergangen. Ruth hat aufgehört, mit Michaël zusammenzuarbeiten, sie muss sich um ihre eigenen Angelegenheiten kümmern. Und schließlich gibt es den Verein. Wenn die Mitarbeiter nicht spuren, treibt Michaël sie vor sich her, setzt sie mit Zahlen und schrecklichen Geschichten unter Druck. Tausende, die auf die Ausreise warten, Menschen, die ermordet werden, weil sie nicht rechtzeitig wegkommen. Wer kann sich solchen Argumenten entziehen? Trotzdem haben manche der jungen Leute keine Lust mehr, sie arbeiten ehrenamtlich oder unterbezahlt. Sie bekommen auch wenig Lob,
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