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Mein Erzengel (German Edition)

Mein Erzengel (German Edition)

Titel: Mein Erzengel (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Erica Fischer
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friedliche Wohngegend. Über zwei große Schaufenster breitet sich vor ihren Augen alles aus, womit man Menschen verletzen und gegebenenfalls töten kann: links Dolche, Degen, Messer, Schwerter, Darts und Scheren, rechts Revolver mit verschieden langen Läufen (der mit dem goldenen Lauf gefällt ihr besonders), dazwischen harmlosere Werkzeuge wie Zangen, Schraubenzieher, Taschenlampen und Essbesteck. Schon für 145   Euro könnte sie sich eine Double Eagle mit einem Acht-Schuss-Magazin kaufen, unglaublich. Doch es sind, wie sie erfährt, als sie nachfragt, nur Schreckschuss- und Gaspistolen, in Österreich kann man nicht in ein Geschäft gehen und sich eine Pistole zum Töten kaufen wie einen Laib Brot.
    Zur Sache geht es bei den US-amerikanischen Versandhäusern. Unter der Rubrik «Guns for the Ladies» findet Ruth im Internet für 358   Dollar den nur 340 Gramm schweren Chester Arms Revolver The Pink Lady mit einem Mittelteil aus rosa Aluminium. The Pink Lady würde wunderbar in ihre Handtasche passen. Mit ihr könnte sie aus nächster Nähe erledigen, was dem bärtigen Milizionär mit seiner Kalaschnikow misslungen war. Hätte er es nur getan, sie könnte jetzt ruhiger schlafen.
    Sie steht vor diesem unsäglichen Laden mitten auf dem Gehsteig, kneift die Augen zusammen und zielt, ihre Hand, darin die Pink Lady, zittert nicht. Es kracht. Michaël knickt ein. Eine Frau hält sich entsetzt die Hände vor den Mund, läuft zu ihm hin, bricht über ihm zusammen. Eine Szene wie im Gazastreifen. Den Einschuss hat er mitten in der Stirn, er muss nicht lange leiden.
    Auf welche Entfernung kann man einen Menschen mitten in die Stirn treffen? Im Kino sieht man Offiziere nur aus nächster Nähe mit Pistolen töten. Sie geben ihrem Pferd den Gnadenschuss oder schießen mit gestrecktem Arm an der Grube stehenden Juden in den Hinterkopf.
    Eigentlich würde eine Schreckschusspistole genügen, auch wenn in der Auslage keine liegt, die nur annähernd so anmutig ist wie die Pink Lady, zu der sie ihr auberginenfarbenes Kleid tragen könnte. Mit der Double Eagle würde sie Michaël immerhin zwingen, sich ihr zu stellen, mehr will sie gar nicht. Sie gönnt ihm sein Leben, wie immer es heute aussehen mag, sie will nur in seinen Augen die Angst sehen. Seine Angst kennt sie von Spaziergängen, wenn ein Hund ihnen entgegenkam. Ganz verständnisvolle Gattin, wechselte sie die Seite, um sich schützend zwischen ihn und den Hund zu stellen, der Michaëls Angst witterte. Mit Hilfe der Double Eagle lässt Ruth Michaël vor sich niederknien und zwingt ihn, auf ihre Fragen zu antworten, er kann nicht wissen, dass die Pistole nicht scharf ist. Sie hört sich an, was er zu sagen hat, droht mit der Waffe, wenn sie spürt, dass er ihr ausweicht. Sie will seine Scham sehen. Wenn sie genügend weiß, stöckelt sie auf ihren Stilettos in den U-Bahn-Schacht, ohne sich noch einmal nach ihm umzudrehen. Ruth hat ihm nichts mehr zu sagen. Sie hat es ihm Dutzende Male geschrieben, gefaxt, auf den Anrufbeantworter gebrüllt. Er aber muss nun ohne seine Lebenslüge weiterleben.

12
    Immer wenn in Ruths Leben etwas Wichtiges bevorsteht, wird ihr das Portemonnaie gestohlen, abgesehen vom finanziellen Verlust auch eine lästige Rennerei. Sie weiß schon gar nicht mehr, wie oft sie sich einen neuen Führerschein ausstellen lassen musste. Einmal wollte sie aus Verzweiflung über eine gescheiterte Beziehung zu einem Liebhaber nach Hamburg fliehen. Im Zug hatte sie ihre Handtasche neben sich liegen, eine jener damals modernen Jägertaschen aus hellbraunem Leder. Neben ihr saß an der Taschenseite ein Mann mit einem seltsamen Tick. Er bewegte in einem fort seine Hand in einer kreisenden Bewegung, einer Geste, die man macht, um zu bedeuten, dass einer etwas geklaut hat. Ruth sah es aus dem Augenwinkel, wollte aber den Kopf nicht drehen, um den Mann nicht zu blamieren, sie hielt es, wie gesagt, für einen Tick, den er nicht kontrollieren konnte. Auf der anderen Seite des Abteils saß ein Mann, der Blickkontakt zu ihrem Nachbarn hatte, so rekonstruierte sie es im Nachhinein. Er muss ihn auf einen Moment ihrer Unachtsamkeit aufmerksam gemacht haben, denn soweit sie sich erinnern kann, war sie zu keiner Zeit eingeschlafen. Jedenfalls stellte sie eine Stunde vor Hamburg fest, dass ihr Portemonnaie fehlte. Zusammen mit den anderen Reisenden beteiligte auch der Mann mit dem Tick sich an der Suche. Ruth wusste, dass nur er der Dieb sein konnte, wagte aber nicht, ihn zu

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