Mein Erzengel (German Edition)
beschuldigen, denn sie hatte keinen Beweis. Also kam sie mittellos und entnervt in Hamburg an, was die Liebesgeschichte nicht gerade beflügelte.
Diesmal passiert es im Einkaufszentrum. Geistesabwesend schiebt sie ihren Wagen durch die Regalreihen, liest benommen, Buchstabe für Buchstabe, die Aufschriften der bunten Verpackungen und denkt an ihre bevorstehende Reise in Michaëls Vergangenheit. Das Portemonnaie steckt in der Außentasche ihres Rucksacks. Aus dem Augenwinkel bemerkt sie ein paar Roma-Mädchen, nimm dich in Acht, denkt sie noch, um sich sogleich für diesen unzulässigen Gedanken zu schämen. Und schon weist eine Frau sie darauf hin, dass ihre Außentasche offensteht. Das Portemonnaie ist weg.
Bank anrufen, Kreditkarten sperren lassen, alles andere kann warten, sie erledigt die nötigen Schritte mit Gleichmut, es ist sinnlos, sich aufzuregen. Einen Anflug von Kränkung kann sie dennoch nicht unterdrücken. Ausgerechnet ihr müssen sie das antun.
Die Roma haben eine feine Nase für gesellschaftliche Umbrüche. Aus historischer Erfahrung wissen sie, dass sie stets die ersten Opfer nationalistischer Zuspitzungen sind. Bereits ein Jahr vor Kriegsbeginn verließen sie das sinkende Schiff und suchten um Asyl an. In den Niederlanden erwartete sie ein unsicherer Status, aber immerhin wurden sie nicht ermordet, sondern bezogen Sozialhilfe und konnten sich am Stadtrand von Amsterdam in einer hellgrün gestrichenen Flüchtlingsunterkunft niederlassen. Doch bei jeder Vorladung zum Ausländeramt drohte ihnen die Abschiebung, uitzetting war das erste Wort, das sie auf Niederländisch lernten.
Um ihnen das Leben im neuen Land zu erleichtern, vermittelte eine Initiative den Roma-Familien Paten. Niederländische Bürger setzten sich für den Schulbesuch der Kinder ein, intervenierten, wenn eine Frau geschlagen wurde, und begleiteten die Männer zu den Terminen beim Ausländeramt. Michaël und Ruth meldeten sich als Paten. Vor allem Ruth hatte das Bedürfnis, etwas Sinnvolles zu tun. Im Ausland war ihr feministischer Aktivismus zum Erliegen gekommen, sie hatte kaum Freunde, und das Herstellen von Broschen, Halsketten, Ohrgehängen und Ringen füllte, auch wenn sie damit Erfolg hatte, ihr Leben nicht aus. Zudem plagte sie das schlechte Gewissen: Die Zigeuner sind die ungeliebten Geschwister der Juden, doch ihre Verfolgung und Ermordung in der Nazizeit wurde niemals in derselben Weise anerkannt wie die Verfolgung und Ermordung der Juden.
Ruth war schon bald frustriert. Die Ermahnungen an ihre Schützlinge, die zehnjährige Tochter zur Schule zu schicken, fruchteten wenig. Wenn eines der vielen Feste anstand, zu denen Verwandte aus ganz Europa angereist kamen, musste die Schule zurückstehen. Diese Leute verstanden auf eine besondere Weise zu leben und zu genießen. Trotz des bescheidenen Rahmens, den das Flüchtlingswohnheim bot, bogen sich bei den Festen der Roma, zu denen sie auch Michaël und Ruth einluden, die Tische. Ruth fand jedoch bald Ausreden, um nicht mehr mitzukommen, denn die gesamte Aufmerksamkeit der Roma-Kolonie galt Michaël, gegen ihn hatten auch die anderen Paten keine Chance.
Schon längst gab er sich nicht mehr mit sozialarbeiterischer Betreuung zufrieden, sondern legte es darauf an, den niederländischen Staat zu überlisten. Immer mehr Familienoberhäupter begleitete er zu ihren Terminen beim Ausländeramt. Rückblickend zeichnete sich schon damals seine Lust ab, der Bürokratie ein Schnippchen zu schlagen. Seine kontrollierende Anwesenheit an der Seite der Roma-Männer wirkte Wunder. Unter Michaëls wachsamem Auge wandelten sich desinteressierte, übelgelaunte und mit Vorurteilen behaftete Marionetten eines Staates, der die Leute so rasch wie möglich loswerden wollte, in Menschen, die auch als Beamte bemüht waren, aus dem Wust der Vorschriften jene herauszufiltern, die sich für ihre Klienten als günstig erwiesen. Michaëls Ruf breitete sich in der Kolonie aus. Wenn er den Wagen im Hof des Flüchtlingswohnheims abstellte, wurde er sofort von aufgeregt gestikulierenden und mit Papieren winkenden Menschen umringt. Ihm hätten sie niemals das Portemonnaie gestohlen.
Schritt für Schritt errichtete Michaël sich, so sieht Ruth das heute, ein auf Abhängigkeit gründendes Imperium, das ihn immer mehr forderte. Ihr Alltag war nun von den Terminen der Roma bestimmt, der einzige Urlaub auf Mallorca, den sie sich in ihrer Ehe gönnten, musste wegen eines solchen Termins abgebrochen werden. Ruth
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