Mein Erzengel (German Edition)
Mutter sah es nicht gern, wenn ihr Sohn dorthin ging, der Vater sei Kommunist, das wusste man im Städtchen, aber da sie keine Zeit hatte, sich um den Sohn zu kümmern, tat er ja doch, was er wollte. «Warst wieder dort?», fragte der Vater abends drohend, und noch ehe Michaël irgendetwas antworten konnte, bekam er eine Ohrfeige und gleich darauf eine Kopfnuss. Dass Annemiekes Eltern ihrerseits allen Grund gehabt hätten, ihrer Tochter den Umgang mit Michaël zu untersagen, fiel seinen Eltern nicht ein. Annemiekes Eltern mochten zwar Kommunisten sein und nicht zur Kirche gehen, während der Besatzung waren sie jedenfalls im Gegensatz zu Michaëls Eltern auf der richtigen Seite. Es gab eine Zeit, wo es nicht zählte, ob einer Kommunist war, Hauptsache er leistete Widerstand gegen die Deutschen. Wenn jemand im Städtchen geächtet war, dann Michaëls Vater, der Kollaborateur, für den sich sein Sohn schämte, solange er sich erinnern kann.
All dies trug nicht dazu bei, Michaëls Sohnesliebe zu befördern, und so war er ständig auf der Suche nach Menschen, die ihm ein anderes Menschsein vorlebten.
Als er dreizehn war, lernte er Tineke aus dem Nachbarort kennen. Sie hatte eben die Matura bestanden, in der Umgebung gab es nicht viele, die das Gymnasium besuchten, und schon gar nicht Mädchen. Noch mehr beeindruckte ihn, dass Tineke rotes, mit Henna gefärbtes Haar hatte, das ihr in langen, dünnen Strähnen ins Gesicht fiel, und dass sie sich die Augen schwarz schminkte. Sie rauchte und hatte ein tiefes kehliges Lachen. Wenn Michaël sie traf, wusste er nicht, was er mit ihr reden sollte, und er konnte nicht verstehen, warum sie immer wieder seine Nähe suchte, ihm Zigarettenrauch ins Gesicht blies und ihn mit ihren schwarzen Sehschlitzen fixierte.
Und eines Tages, als sie bei Einbruch der Dunkelheit zwischen den Dünen spazieren gingen, fasste auch sie ihn an den Hintern, aber diesmal war es anders. Wie gelähmt blieb er stehen, weil ihm die Knie weich wurden. «Komm», sagte Tineke, nahm ihn an der Hand, ließ sich rücklings in den Sand fallen und zog ihn hinterher. Er trug noch eine kurze Hose wie ein Kind, aber sein Schwanz reagierte in Sekundenschnelle. Alles geschah so plötzlich, ohne dass er recht wusste, wie er überhaupt in ihre heiße Umklammerung geraten war, brach er auch schon über ihr zusammen.
«Sie hätte mir vorher etwas erklären sollen», sagte Michaël. «Ich hab ja gar nicht gewusst, was da abgeht, und war so unbeholfen. Ich bin zwar in sie eingedrungen, aber eigentlich war es umgekehrt: Sie hat mich genommen. Ich war eingeschüchtert und voller Angst. Es war nur unangenehm.»
In der Literatur gibt es viel über Entjungferungen von Knaben durch ältere Frauen oder Prostituierte, da liest sich das meistens anders.
Ob er die Beziehung mit dieser Frau fortgesetzt hat, weiß Ruth nicht, sie hat ihn nicht danach gefragt, es schien ihr nicht wichtig zu sein. Jetzt aber bekommen diese dreizehn Jahre eine ganz andere Bedeutung. Kann es sein, dass diese Frau schwanger wurde? Kann es sein, dass der Sohn, von dem Amira sprach, das Kind aus dieser Vergewaltigung ist? Kann es sein, dass diese Frau Vera und nicht Tineke hieß, und sich die Begegnung der beiden im österreichischen Kirchstätten abspielte, wo Michaëls Eltern regelmäßig ihren Urlaub verbrachten, genau dort, wo er sich nach Erreichen der Volljährigkeit niederließ, um die Mutter seines einem anderen untergeschobenen Sohnes zu heiraten? Oder wusste derjenige sogar, dass er nicht der Vater war? Was sein späteres Verhalten nach Veras Selbstmord teilweise erklären würde.
Vielleicht hat diese erste sexuelle Erfahrung samt ihren dramatischen Folgen Michaëls späteres Liebesleben bestimmt. Seinen Penis hat er stets als lästiges Anhängsel betrachtet, dessen Eigenleben ihm unangenehm war. Er beneidete die Frauen darum, dass ihr Begehren äußerlich nicht sichtbar ist, und träumte von sexueller Liebe, bei der das Eindringen nur eine Form der Sexualität unter vielen ist. Er versuchte diesen Augenblick möglichst lang hinauszuzögern.
«Wollen denn die Frauen überhaupt penetriert werden?», fragte Ruth bewusst naiv, denn nach der «Schwanz-ab»-Phase hatte sie längst wieder begonnen, das Eindringen zu genießen, auch wenn sich daraus nicht zwingend ein Orgasmus ergab.
«In den letzten Jahren immer mehr. Wenn ich nicht wollte, musste ich mir vorwerfen lassen, schwul zu sein. Manche Frauen waren verunsichert, weil sie sich
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