Mein Erzengel (German Edition)
offensichtlich erst dann bestätigt fühlten, wenn ordentlich gevögelt wurde.»
«Das hab ja auch ich von dir verlangt.» – «Ja, leider. Das ist eine sehr primäre, sehr banale Form von Sexualität. Zum Teil ist es wohl Anpassung an die veränderten Bedingungen. Wir sind heute insgesamt weniger bereit zu experimentieren, mit unserem Leben, mit unserem Körper. Wir sind froh, auf vorgestanzte Formen zurückgreifen zu können. Bei der Missionarsstellung weiß jeder, was er zu tun hat. Es ist eine Frage von mangelnder Phantasie und Neugier. Ich wünsche mir den ganzen Körper als Ort meiner Sexualität.»
In Wirklichkeit ist dieser erste Beischlaf auch Ruth eher unangenehm gewesen, sie hatte sogar halbherzige Anstalten gemacht, noch rechtzeitig zu gehen. Doch er flehte sie an zu bleiben. Das rührte sie. Wenn sie bei einem Mann über Nacht blieb, spulte sie das übliche Programm ab. Es fiel ihr gar nicht ein, dass Michaël etwas anderes wollen könnte: Zärtlichkeit statt Ficken. Kurzum: Da sie sich nun entschieden hatte zu bleiben, wollte sie die Sache mit dem Sex möglichst schnell hinter sich bringen. Und sie erledigten sie tatsächlich mit größtmöglicher Geschwindigkeit. Das eigentliche Einschlafen mit einem unbekannten, schnarchenden Mann an der Seite (sie hatten eine Menge getrunken) dauerte länger.
Beim Aufwachen am Morgen im fremden Bett ein Haufen Fleisch neben ihr, der Mund offen, die Lippen rissig. Michaël war kein schöner Anblick, die Augen verquollen, das feuchte Haar an die Stirn geklebt. Ruth wollte sich davonschleichen, doch da war er schon hellwach, schaute sie verklärt an, zog sich ein Hemd über, zwischen dessen Zipfeln der geäderte Sack vorschaute, und machte sich in der Küche zu schaffen. Als sie aus der Dusche kam, war sein Haar am Hinterkopf zusammengebunden, und das Frühstück stand bereit. Er kniete vor ihr nieder. «Ich mag dich», sagte er, sein Blick war hündisch.
Ständig entschuldigte er sich: für die mangelhafte Ausstattung seiner Wohnung, die Abwesenheit einer anständigen Stereoanlage, seine mangelnde Lust. Er besaß zwei Hemden und eine Hose. Wenn diese gewaschen werden musste, ging er so lange nicht außer Haus, bis sie trocken war. Essen war ihm nicht wichtig, nur an Rotwein herrschte kein Mangel. Er habe seinen Körper verloren, sagte er, finde sich als Mann nicht mehr zurecht. Seine Düsternis legte sich über Ruth wie eine lebensgefährliche Bedrohung. Sie brach in Tränen aus. Sie weinte über das Elend seiner verkorksten Männlichkeit, über seinen vernachlässigten Körper, aber auch über ihre eigene Einsamkeit und Unfähigkeit, dieses breite fleischige Gesicht, diesen pickeligen, behaarten Körper zu lieben und zum Leben zu erwecken.
Michaël sprach vom Gift der Liebe, einer Liebe, die für Frauen allzu oft zu Abhängigkeit und Unterwerfung führte.
Wenn Ruth sich an ihre Gespräche der Anfangszeit erinnert, überkommt sie eine Mischung aus Wehmut und Belustigung. Er war durchglüht von der Patriarchatskritik, die feministische Autorinnen zehn Jahre zuvor geübt hatten. Er wollte auf männliche Machtausübung verzichten, gleichzeitig aber das hierarchische Verhältnis der Geschlechter nicht ausblenden und in seine Arbeit als Schriftsteller einfließen lassen. Kein anderer Mann in ihrem Leben war so weit gegangen.
Doch Michaëls Theorie vom Penis als potenziellem Gewaltinstrument führte leider in ihrer Ehe zum Abklingen des Begehrens. Insgeheim sehnte Ruth sich nach praller Männlichkeit, nach einem, der es ihr ohne viel Federlesens besorgte. Natürlich hätte sie ein so unfeministisches Bedürfnis Michaël gegenüber niemals zugeben können, denn auch so schon hatte er eine Menge an ihrer Nachgiebigkeit Männern gegenüber auszusetzen. Einmal wurde sie mitten in der Nacht wach, weil sie von hinten etwas Hartes anstieß, in sie einzudringen versuchte, das Eigenleben meldete sein Recht an. Leider schlief er fest, und am Morgen war nichts mehr davon übrig.
Es fehlte ihnen also am Ende das Sexuelle, das – auch als aggressive Entladung – vielleicht in der Lage gewesen wäre, ihr Schweigen zu durchbrechen.
«Historisch betrachtet bedeutet das Eindringen des Penis in die Vagina ein Stück Verfügungsrecht des Mannes über die Frau», dozierte Michaël. «Die Frau hat Macht, solange sie sich verweigert. In dem Moment, wo sie ihren Körper preisgibt, dreht sich der Spieß um.»
So lässt es sich in der feministischen Literatur nachlesen, und die Analyse
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