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Mein Erzengel (German Edition)

Mein Erzengel (German Edition)

Titel: Mein Erzengel (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Erica Fischer
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Michaël zu viel trank und aggressiv wurde oder dass einer der Gäste am Tisch eine Bemerkung fallenließ, die Michaël missfiel. Dann konnte es passieren, dass er aufstand und wortlos das Haus verließ. Er wartete zwar freundlicherweise im Auto auf sie, aber vorher musste sie der brüskierten Runde seine besonderen Empfindlichkeiten erklären. Sie fühlte sich für ihn verantwortlich wie eine Mutter für ihr launisches Kind.

    In Kirchstätten quartieren sie sich in einem Gasthof ein, das Kreuz an der Wand hängen sie ab. Hier in der Nähe hat Michaël mit Vera und den beiden Kindern gelebt, an einem kleinen Bergsee mit einem privaten Steg ins Wasser. Michaël hat Ruth einmal über den See gerudert, ein abgeschiedener Ort für eine junge Familie, fast unerträglich schön. Wer weiß, wie lange es gedauert hat, bis man ihre Leiche fand.
    Heike und Ruth fahren an den See, das Haus liegt auf der anderen Seite hinter Bäumen versteckt. Schweigend sitzen sie am Ufer, atmen die würzige Bergluft, horchen auf das Gemurmel des Wassers, beobachten, wie die Blumen unter dem Gewicht pelziger Hummeln ihre Stängel neigen. Vera. Arme Vera. Allein hier zu leben, von ihrem geliebten Mann verlassen, muss die Hölle gewesen sein. Bestimmt hat sie die Kinder vorher weggebracht. Danach kam die Tochter zu den Schwiegereltern, der behinderte Sohn ins Heim. Was ist eigentlich aus dem Vater geworden? Wieso hat er sich nach Veras Tod nicht um die Kinder gekümmert? Oder hat er sich doch gekümmert? Michaël hat ihn nur beiläufig erwähnt, hat nie so schlecht von ihm gesprochen wie von seinen eigenen Bruder, dessen Frau sich immerhin nicht das Leben nahm. Vielleicht weil zumindest der Bub nicht der eigene Sohn des Mannes war? Dann aber wäre Michaëls Hass auf verantwortungslose Väter ein Hass auf sich selbst. So wie Hitlers Hass auf die Juden sich möglicherweise aus seinem Hass auf das eigene jüdische Blut speiste, das er großmütterlicherseits zu haben glaubte. Michaël hat diesen Hass immer mit seinem sogenannten Geschlechterverrat erklärt: «Verräter sind empfindlicher, weil sie das, was sie verraten, aus großer Nähe kennen.»

    «Wenn ich in dieser Einsamkeit hier gelebt hätte und nicht in Amsterdam, ich hätte mir auch das Leben genommen», sagt Ruth in die summende Stille hinein.
    «Du warst nah dran. Ich hab mir Sorgen gemacht um dich. Oft hab ich dich tagelang nicht erreicht. Du hättest dir ja tatsächlich etwas antun können.»
    «Ich hatte manchmal einfach nicht die Kraft, zum Hörer zu greifen. Solange ich noch gehofft habe, dass er mich anruft, bin ich immer sofort hingestürzt. Als klar war, dass er nicht mit mir sprechen würde, hab ich jedes Interesse an der Welt verloren. Ich saß nur da und starrte vor mich hin. Manchmal habe ich den ganzen Tag Kreuzworträtsel gelöst – was auf Holländisch saumäßig schwer ist.»
    «Sie waren labiler als ich, beide, auch Michaël», fährt Ruth nach einer langen Pause fort. «Ich bin ein Stehaufweibchen, hab mich immer noch aufgerappelt. Sie haben gekifft und gesoffen, nicht nur Vera war manchmal schon am Vormittag betrunken. Ich hab eine Freundin, Sylvia heißt sie. Sie ist hier aufgewachsen und hat es selbst gesehen. Manchmal waren beide vollkommen hinüber, das muss wohl in der Phase gewesen sein, als die Beziehung zu Ende ging. Vera hat auch nicht mehr gearbeitet. Sylvia hat mir bestätigt, was Michaël immer behauptet hat: Vera hatte keinen Rückhalt. Ihre Freunde in der Stadt waren allesamt der Meinung, dass der Mann das Recht hat zu gehen, wenn er sich in einer Beziehung eingeengt fühlt. Ich war mit meinen Freundinnen besser dran.»
    Diese Sylvia hat Ruth auch die Telefonnummer von Maria gegeben, Veras Freundin, die sich wegen Michaël die Pulsadern aufschnitt, aber gerettet wurde. Von ihr erhofft Ruth sich Auskunft über den Sohn. Vorher wollen sie aber noch mit Leuten aus dem Dorf reden.
    «Kennen Sie den Mann?», fragt Ruth den Alten, der in der Stube ihres Gasthofs hockt, und kommt sich vor wie die Kommissarin im Montagskrimi.
    Misstrauisch blickt er von seinem Bier auf. Er hat rissige, abgearbeitete Hände, das dünne Foto liegt in seiner Pranke wie ein Gegenstand aus einer anderen Welt. Er hält es weit von sich, sieht nichts, kramt nach der Lesebrille, die ohne Futteral in der Jackentasche steckt. Lange schaut er das Bild an, kneift die Augen zusammen.
    «Des is … des is der Holländer!»
    «Ja. Was wissen Sie über den?»
    «Da sag i nix.»
    «Was ist mit

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