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Mein Erzengel (German Edition)

Mein Erzengel (German Edition)

Titel: Mein Erzengel (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Erica Fischer
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maulte. Damals bekam ihre Liebe einen deutlich spürbaren Riss. Ruth stand nicht mehr an erster Stelle in Michaëls Leben, er wurde von anderen gebraucht. Ihr Widerstand bestand darin, sich aus dem Projekt zurückzuziehen, was jedoch keiner merkte, denn die Roma waren nicht an ihrer betulichen Zuwendung interessiert, sondern an der handfesten Hilfe, die Michaël bot. Wenn sie wütend war, nannte sie ihn Zigeunerkönig.
    Mit einem anderen Zigeunerkönig, dem Gründer und Kopf der Roma-Initiative, lieferte er sich erbitterte Hahnenkämpfe, denen er am Ende nicht gewachsen war. Seine Idee eines Abends mit Roma-Künstlern in einem renommierten Theater wurde ihm, als er nach zähen Verhandlungen alle Zusagen in der Tasche hatte, von seinem Kontrahenten aus der Hand genommen und bis zur Unkenntlichkeit entstellt umgesetzt. Aus dem avantgardistischen Musikprogramm, basierend auf der Zusammenarbeit zwischen einem niederländischen Komponisten und Roma-Musikern aus der Flüchtlingssiedlung, die Texte wollte Michaël selbst schreiben, wurde eine glitzernde Gala mit einer aus Bulgarien eingeflogenen Berühmtheit. Ruth sah es sich an, um Michaël zu berichten, der der Veranstaltung tief gekränkt fernblieb. Was als Schau von Roma-Kunst für niederländische Bildungsbürger gedacht war, wurde zu einem Event für die Roma selbst. Noch nie hatte das ehrwürdige Theater ein so begeisterungsfähiges Publikum erlebt. Der Abend war ein voller Erfolg, obwohl, oder gerade weil, die Bulgarin bloß eine aufgetakelte Schnulzensängerin war. Die Roma waren hingerissen. Mit dem siegreichen Rivalen sprach Michaël nie wieder ein Wort.
    Als er im Dezember andere Kriegsflüchtlinge zu retten begann, verschwand Michaël aus dem Leben seiner Roma-Freunde, ohne sich zu verabschieden oder ihnen eine Erklärung anzubieten. Noch Wochen später musste Ruth verzweifelte Anrufe von Roma entgegennehmen, die nach ihrem Mann fragten, weil sie einen Termin beim Ausländeramt hatten. Sie waren verletzt und fühlten sich im Stich gelassen, Ruth konnte es hören. Michaël hatte sie nicht entsprechend eingewiesen, damit sie für ihn einspringen hätte können, und sie war froh, dass man es nicht von ihr erwartete.

13
    Wie schön dieses Österreich ist! Gleich an der Stadtgrenze von Wien beginnen die Hügel des Alpenvorlandes, dichte buschige Kuppen.
    «Erinnerst du dich noch an die Sonntagsausflüge in den Wienerwald?», fragt Ruth Heike, die sich bereit erklärt hat, sie auf dieser Reise zu chauffieren. Ruth ist zu aufgewühlt, um selbst zu fahren.
    «Aber natürlich!», ruft Heike lebhaft, froh, endlich über ein anderes Thema sprechen zu können. «Beim Vater im Rucksack war die Proviantdose mit den Schnitzeln, dem Brot und den Gurkerln, die Mutter hatte die Thermosflasche mit dem Kaffee eingepackt.»
    «Und als wir endlich im Wirtshaus waren, haben wir alles auf dem Holztisch ausgebreitet. Servietten und ein Messer hatten wir natürlich auch dabei. Die Eltern haben für sich ein Bier bestellt, für uns Kinder ein Kracherl. Ich wollte immer ein rotes haben.»
    «Wenn meine Mutter gut drauf war, hat sie auch Erdäpfelsalat vorbereitet.»
    «Und im Gurkenglas auf den Berg geschleppt!»
    «Das waren noch Zeiten!», rufen sie im Chor und lachen.
    Die Sonne scheint, die Luft ist klar, die Autobahn wie leergefegt. Angenehm ist es, mit einer Freundin unterwegs zu sein. Mit Michaël war das Leben so schwer, auf Schritt und Tritt lauerten Fallen, Ruth und etliche andere verfingen sich darin und waren somit als Verräter entlarvt.
    Bei einem Geburtstagsfest unter Kastanien, alle waren fröhlich und freuten sich, alte Bekannte wiederzutreffen, drehte Ruth gerade rechtzeitig den Kopf, um zu sehen, wie Michaël einen Genossen, den er von früher aus der trotzkistischen Bewegung kannte, mit einem vorwurfsvoll lauernden Blick anschaute, der dem seines Vaters erschreckend ähnelte. Der in die Jahre gekommene Versicherungsbeamte, den auch Ruth kannte und an dessen Verhalten sie nie etwas auszusetzen gehabt hat, schaute irritiert und verständnislos zurück. Was hat der dir nun wieder angetan?, hätte sie Michaël gern gefragt, aber eine solche Frage hätte er vielleicht als Preisgabe ihrer unumschränkten Solidarität verstanden. Ein solches Risiko wollte sie nicht eingehen, es war ja auch nicht wirklich wichtig, soll er die Leute anschauen, wie er will, was geht sie das an. Wenn sie bei Freunden eingeladen waren, was selten genug vorkam, fürchtete Ruth jedes Mal, dass

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