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Mein Erzengel (German Edition)

Mein Erzengel (German Edition)

Titel: Mein Erzengel (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Erica Fischer
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ist durchaus geeignet, die Machtverhältnisse zwischen Männern und Frauen angemessen zu beschreiben. Auch dass viele Männer das Abspritzen als aggressiven Akt erleben, mag wahr sein. Die Tatsache, dass das Eindringen des Penis sowohl Liebe als auch Gewalt bedeuten kann, ist in der Tat beunruhigend. «Ich kann nicht so tun, als wäre mein Penis ein Extra-Penis, der mit dem ganzen Patriarchat nichts zu tun hat», sagte Michaël.

    Dass sie schließlich heirateten, obwohl Michaël mit seiner ersten Ehe keine guten Erfahrungen gemacht hatte und die Kälte zwischen Ruths Eltern sie schon früh gegen die Ehe immunisierte, geht letztlich auf ihr Konto. In langen Gesprächen hatte Ruth die von ihr selbst nur allzu oft erlittene Unverbindlichkeit der Liebesverhältnisse nach der sogenannten sexuellen Revolution von 1968 kritisiert. Angeblich hatte die russische Revolutionärin Alexandra Kollontai empfohlen, Sexualität wie ein Glas Wasser zu konsumieren, womit sie sich den Hohn Lenins zuzog. Erst mit der Einführung der Pille konnte Ruth diese Empfehlung tatsächlich leben. Einerseits war das eine Befreiung, denn davor war ihre Sexualität immer verbunden mit Angst und Unruhe, von der Abtreibung ganz zu schweigen. Andererseits war Ruth von da an zwar bei Männern als Trophäe geschätzt, als potenzielle Ehefrau und Mutter war sie aber offensichtlich nicht von Interesse.
    Michaël war der Erste, der sie heiraten wollte, und Ruth war begierig, es auszuprobieren. In der ersten Zeit schien er mit seinem Penis Frieden geschlossen zu haben. Und Ruth genoss seinen unter ihr hingegossenen Körper. Nur selten wurde er selbst aktiv, aber das störte sie nicht, sie war berauscht von ihrer eigenen sexuellen Energie, liebte es auch, selbst Macht auszuüben. Wie oft hatte sie darüber geklagt, dass Männer die Frauenbewegung zwar gut fanden und letztlich von der neuen Freiheit der Frauen profitierten, aber nicht bereit waren, einen eigenen Beitrag zur Neugestaltung der Geschlechterverhältnisse zu leisten. Mit Michaël war für sie ein feministischer Traum wahr geworden, sie hatte einen Mann gefunden, der genau das tat. «Für mich ist der einzigartige Zustand eingetreten, dass ich mein politisches Wollen mit meinem privaten Wollen in Übereinstimmung bringen kann», sagte Michaël. Ruth war stolz auf ihn und auf sie beide.

    Und jetzt diese Sache mit dem Kind. Immer wieder versucht sie, die wenigen Scherben Wissen über sein Leben zusammenzuleimen. Sie rechnet und überlegt und rechnet wieder. Was für ein Vertrauensmissbrauch, wenn es wahr wäre! Kann sich Amira getäuscht haben? Er hat oft von «meinen Kindern» gesprochen. Immer wieder hatte er Lebensabschnittsgefährtinnen mit Kindern, um die er sich kümmerte, ja es scheint, als habe er gezielt nach Müttern Ausschau gehalten, Ruth ist die große Ausnahme. Doch wenn er diese Kinder tatsächlich als die seinen betrachtete, wieso gab es in ihrer gemeinsamen Zeit kein einziges Kind in seinem Leben?
    Als Kinderlose hätte sich Ruth über gelegentliche Begegnungen mit Kindern gefreut. «Sie weiß, wo sie mich finden kann», sagte Michaël über die Tochter einer Frau, mit der er vor ihr zusammen war, als sei das siebenjährige Mädchen eine Erwachsene, die gleichberechtigt mit ihm in Verbindung treten könne. Als das Drama zwischen ihnen schon längst seinen Lauf genommen hatte, überraschte er Ruth eines Tages mit der Idee, sie könnten eine Kriegswaise adoptieren, ein Detail, das ihr erst jetzt wieder wegen seiner Absurdität einfällt. Damals ahnte sie bereits, dass er sie früher oder später mit dem Kind alleinlassen würde, und winkte lachend ab.
    Immer tiefer versinkt Ruth in einem Morast von Fragen. Es führt kein Weg daran vorbei: Nach Jahren, in denen sie sich befreit und wieder ganz bei sich wähnte, einen Tangokurs besuchte und einen Lehrauftrag an der Wiener Goldschmiede Akademie angenommen hat, ist Michaël mit voller Wucht in ihr Leben zurückgekehrt. Und plötzlich merkt sie, dass ihr Hass zurückgekehrt ist. Und auch die Liebe. Und dass sie sich dafür hasst. Eine geschlagene Woche geht sie nicht aus dem Haus, kleidet sich nicht einmal an, kann nicht essen, sitzt nur bei heruntergelassenen Jalousien in der Dunkelheit und starrt vor sich hin, bewegt ihren Oberkörper, um den sie die Arme geschlungen hat, vor und zurück, vor und zurück.

    Auf dem Weg von ihrer Wiener Wohnung im fünften Bezirk zur U-Bahn ist ein Waffengeschäft, ein seltsamer Laden für eine so

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