Mein Erzengel (German Edition)
vollbrachter Tat bot er ihr Tee an und schließlich auch noch seine Hand. Den Händedruck verweigerte sie ihm. Sie hatte keine Ahnung, wie er hieß und auch nicht die Geistesgegenwart, sich die Adresse zu notieren. Weder ihm noch ihr kam in den Sinn, dass sie auch zur Polizei hätte gehen können. Benommen kehrte sie zu ihrer Mutter zurück, die sie bei Freundinnen erwartete, und bewahrte Stillschweigen über den Vorfall, den sie schon nach wenigen Wochen vergessen hatte, verdrängt, wie sie Jahrzehnte später begriff.
Und was geschah im Studentenheim in Prag, als sich auf ähnliche Weise plötzlich die Tür hinter ihr schloss? Ruth möchte nicht mehr daran denken. Sie war damals jung und unerschütterlich davon überzeugt, es könne ihr nichts geschehen.
Es ist ihr ja auch nichts geschehen. Das waren alles Lappalien gegen den Schmerz, den Michaël ihr zugefügt hat. Hätte er sie verprügelt, es wäre wenigstens eine Form der Auseinandersetzung gewesen. Die Gewalt des Schweigens war zehnmal schlimmer.
Was kann ihr Toni also schon antun?
«Okay, gehen wir.»
Toni wohnt nicht weit. Er schleust sie durch belebte Einkaufsstraßen, auf der Via Toledo sieht sie im Vorübergehen, so wie nur Frauen das können, in einem Ledergeschäft eine schöne Handtasche, gleich morgen wird sie wiederkommen. Und schon biegen sie rechts ab in eine der schmalen, bergan führenden Gassen im Spanischen Viertel, deren Namen alle mit Vico beginnen. Über ihnen, quer über die Gasse gespannt, die Wäsche, hinter ihnen das drängende Knattern der Vespas. Einer unterhält sich über vier Stockwerke hinweg mit seiner Mamma, Szenen, wie Ruth sie aus italienischen Filmen der sechziger Jahre kennt, es fehlt nur noch an der nächsten Straßenecke die göttliche Sophia Loren im achten Monat und in der unnachahmlich erotischen Kittelschürze. Und natürlich der kleine Totò.
«Da sind wir.»
Toni bleibt vor einer schweren Metalltür stehen, die kreischt, als er sie öffnet.
«Hier wohne ich.»
Im ersten Augenblick sieht Ruth nichts als ein schwarzes Loch, aber sie spürt die Anwesenheit von Menschen. Ihre Schultern werden steif. Allmählich gewöhnen sich ihre Augen an den fensterlosen Raum, durch die einen Spaltbreit offengebliebene Tür dringt ein Lichtstrahl. Auf zwei rechtwinklig zueinander gestellten Betten sitzen drei Männer und schauen sie überrascht an. Sie wurden offensichtlich in einem Gespräch gestört, das sie nun nicht mehr fortführen wollen. Alle drei sind schwarz. Zu ihren Füßen auf dem Boden auf einem großen Laken ein unordentlicher Haufen Handtaschen, so viel kann Ruth erkennen. In einer anderen Ecke ein Verschlag, hinter dem sie irgendeine Art Badezimmer vermutet. Davor ein Tisch mit Resopalplatte und Stahlrohrbeinen.
«Hier wohne ich», wiederholt Toni und knipst das Licht an.
Die Afrikaner kneifen die Augen zu. Die Neonröhren an der Decke werfen ein unbarmherziges Licht auf einen jämmerlichen, fensterlosen Raum, an der Wand ein Christusbild mit blutendem Herzen, in den Rahmen gesteckt eine Plastikblume. Ruth spürt vom Steinboden her klamme Kälte ihren Körper hinaufkriechen. Es sieht aus wie in einer Gefängniszelle.
«Das ist ein basso, hier leben normalerweise ganze Familien. Ein Ehepaar, das sich verbessert hat, hat ihn uns für wenig Geld vorübergehend überlassen», erklärt Toni, «den Fernsehapparat haben sie leider mitgenommen.» Er zeigt auf einen zusammengerollten Schlafsack, in dem eine Isomatte steckt: «Ich schlafe da drüben.»
«Das ist Ruth», sagt Toni auf Englisch. Lächelnd reicht sie den drei Männern die Hand und wundert sich, wie ruhig sie ist. Von draußen hört man Straßengeräusche, irgendwo faucht eine Espressomaschine. Ein Königreich für einen Kaffee, denkt Ruth, dort draußen an einer Bar, einen Espresso mit einem Glas Wasser, das man immer vorher trinken muss, nie danach, um den Geschmack des schwarzen Gebräus noch möglichst lange auf der Zunge zu genießen. So hat es ihr ein sichtlich geschockter Benedetto erklärt, als sie es verkehrt herum machte. Die ihr geläufige Erklärung, das Wasser vor oder nach dem Kaffee diene dazu, den Körper vor der durch den Kaffee verursachten Entwässerung zu schützen, fand er abwegig.
«Entspann dich», sagt Toni und bietet Ruth einen Stuhl mit einer Sitzfläche aus rosa Plastik an, die sich beim Hinsetzen zischend zusammendrückt. Er zieht seinen Schlafsack zu sich heran und setzt sich neben sie.
Die Handtaschen sind scheußlich,
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