Mein Erzengel (German Edition)
Mit seiner Familie wollte niemand etwas zu tun haben. Seit ich mich erinnern kann, haben die Leute mit dem Finger auf den Verbeke gezeigt: Der war auf der falschen Seite, das ist ein Freund der Moffen gewesen. Kennst du den Ausdruck?»
«Was denkst du denn? Als Deutschsprachige in den Niederlanden begegnet er einem auf Schritt und Tritt. Das war eines der ersten Worte, die ich gelernt habe.»
«In der Schule wollte keiner neben Michaël sitzen, was für eine Demütigung! Und dann war er noch dazu so ein Weichei, spielte nicht Fußball und saß lieber mit den Mädels zusammen. Das hat ihn nicht gerade beliebter gemacht. Er war entweder der Sohn des Kollaborateurs Verbeke oder eine Schwuchtel – eine verheerende Mischung. Ich hab mich um ihn bemüht, zuerst nur, weil ich es ungerecht fand, dass der Sohn für die Missetaten des Vaters büßen muss. Aber dann hab ich gemerkt, wie ungeheuer intelligent, originell und künstlerisch begabt er war. Mit ihm war’s einfach immer interessant. Meine Eltern haben diese Freundschaft nicht gern gesehen, vor allem aber haben sie mir verboten, mit zu Michaël nach Hause zu gehen. Das kam aber sowieso nicht in Frage, Michaël hat nie jemanden mit nach Hause genommen. Der hat ziemlich bald begriffen, dass er gut daran tat, auf Distanz zu seinen Eltern zu gehen. Letztlich hat es ihm nichts genützt, den Gestank seines Vaters ist er nie losgeworden. Deswegen ist er ja auch so früh nach Österreich abgehauen. Ich hab ihn dann aus den Augen verloren.»
«Was hat sein Vater denn getan?»
Der Stuhl, auf dem Ruth sitzt, beginnt unbequem zu werden. Sie setzt sich auf eines der Betten. Sie weiß nicht, ob sie es wirklich wissen will. Vielleicht würde sie noch im Nachhinein den Gestank an seinem Sohn wahrnehmen. Vielleicht war auch Michaël irgendwie auf eine vertrackte Art Antisemit, vielleicht hat er deswegen so großen Wert darauf gelegt, seinem Vater unter die Nase zu reiben, dass sie Jüdin ist.
«Er hat sich nach dem Angriff der Wehrmacht auf die Sowjetunion zur SS-Freiwilligen-Legion Nederland gemeldet, die später praktisch zu einer Formation der Waffen-SS wurde.»
Das ist schlimmer, als Ruth dachte. Sie ist noch nie einem SS-Mann begegnet, und Michaëls Vater entspricht nicht ihrer Vorstellung von einem kaltschnäuzigen Massenmörder. Für sie ist der alte Verbeke eher ein dumpfer Underdog, dem die Rassentheorie endlich Gelegenheit bot, sich anderen überlegen zu fühlen. Nach dem Krieg war es vorbei mit der Überlegenheit, er fiel tiefer als je zuvor, konnte nach einigen Jahren im Internierungslager nichts anderes tun als schweigen und schauen, dass sein von einem Onkel geerbtes Restaurant irgendwie überlebte. Die deutschen Soldaten waren weg, und kein Niederländer, der auf seinen guten Ruf Wert legte, wollte in seiner Nähe gesehen werden, zumindest in der Nachkriegszeit fuhren sie lieber in den Nachbarort, als seine Wirtsstube zu betreten. Kein Wunder, dass er beklommen war, als Ruth an seinem Tisch saß. Er war auf der falschen Seite gewesen, und er wusste, dass sie es wusste.
«Warum er das getan hat, weiß ich nicht, es wurde ja nie offen darüber gesprochen», fährt Toni fort, und Ruth denkt, dass er eigentlich ein ganz hübscher Kerl wäre, wenn ihm nur die zwei Zähne nicht fehlten.
«Er stammt aus einem armen Elternhaus, war eins von zehn Kindern, vielleicht hat er sich davon eine bessere Zukunft versprochen, vielleicht haben ihm die Angehörigen der Herrenrasse imponiert, heute ist das ja alles nicht mehr nachvollziehbar. Vielleicht war es pure Abenteuerlust und die Chance, von seiner Familie wegzukommen. Mit meinen Eltern konnte ich darüber schon gar nicht sprechen. Für sie war der Verbeke ein Schurke, ein Landesverräter, der Feind schlechthin, den ich meiden sollte wie der Teufel das Weihwasser. So haben die meisten gedacht, und deshalb hat man sich mit den Beweggründen dieser Kriegsfreiwilligen nie auseinandergesetzt. Dabei ist es ja nicht so, dass alle Niederländer im Widerstand waren. Die meisten waren einfach passiv, haben geschaut, dass sie irgendwie durchkommen. Auch das Verhalten der Regierung war kein Ruhmesblatt. Schon in den dreißiger Jahren hat der Grenzschutz Vorkehrungen getroffen, um gegenüber Deutschland die Neutralität zu wahren, wie es hieß. Sogar nach der Reichskristallnacht noch wurden jüdische Flüchtlinge, die keine offizielle Aufenthaltsberechtigung vorweisen konnten, nach Deutschland zurückgeschickt. Die Königin, die gegen
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