Mein Erzengel (German Edition)
nicht vorstellen. Ruth ist hier fremd, ihm viel ähnlicher als den Neapolitanern, und doch fühlt sie sich wohl, gewärmt wie schon lange nicht mehr.
Als Höhepunkt ihres Aufenthalts lädt Benedetto Ruth auf einen Ausflug zu den Äolischen Inseln ein, vorher organisiert er für sie Wanderschuhe, Stöcke und einen warmen Anorak. Auf dem Katamaran eines Freundes machen sie sich an einem windstillen Abend auf den Weg nach Stromboli. Zum Abendessen gibt es in Minze gewendete Pennette alla Sorrentina an gebratenen Zucchini und Langusten, lebend und sich wehrend in den zur Hälfte mit Wasser, zur Hälfte mit Wein gefüllten Topf gestopft. Wohl wissend um die Seelenlage zart besaiteter Binnenländerinnen wird Ruth von dieser Szene ferngehalten. Während des Essens kann Benedetto sie gerade noch davon abhalten, die Languste mit Zitrone zu beträufeln, wie sie es mit jeder Art von Meerestier gewöhnt ist. «Bitte nur Olivenöl!», fleht er sie an. Zum Schluss gibt es Cassata aus Milazzo, umspült vom unvergleichlichen Dessertwein Malvasia di Salina. Beschwippst wanken sie in ihre winzige, mit Toilette und Dusche ausgestattete Kabine und klettern über eine Leiter in die Koje. Unter ihren ineinander verkeilten Körpern schaukelt das Boot wie eine Wiege. Die Beengtheit des Raums schafft eine Intimität, die Ruth wünschen lässt, die Nacht mit dem schmatzenden Meer möge nie enden.
Zur Einstimmung haben sie sich in Neapel die DVD von Roberto Rossellinis «Stromboli» angesehen. Ingrid Bergman, schlank und elegant in ihrer Hose im Marlene-Dietrich-Stil, und die schwarzgekleideten Bewohnerinnen des Dorfes, die der Ausländerin vom ersten Augenblick an misstrauen. Zu Recht, möchte man sagen, denn die schöne Schwedin verhält sich in ihrer neuen Umgebung einigermaßen seltsam. Bis sie schließlich, in Sommerkleid und Ballerinas, verzweifelt versucht, den dampfenden, fast tausend Meter hohen Berg nach Ginostra zu überqueren, von wo sie auf einem Schiff der vulkanischen Düsternis und dem gewalttätigen Ehemann zu entfliehen hofft. Als sie, derart unangemessen ausgerüstet, im schwarzen Geröll schluchzend zusammenbricht und Gottes Hilfe erfleht, ahnt man, dass sie kein Glück haben wird.
Bei Benedetto und Ruth kann nichts schiefgehen, denn ohne offizielle Führung darf heutzutage keiner mehr den Berg besteigen. Ausgestattet mit Helm und Taschenlampe geht es am späteren Nachmittag mit ein paar anderen Personen im Gänsemarsch los. Für Ruth, die des Öfteren mit ihren Eltern und Freunden Bergwanderungen unternommen hat, ist der bisweilen steile Aufstieg ohne allzu große Anstrengung zu bewältigen. Doch anders als in den österreichischen Bergen gibt es nach dem baldigen Ende der Vegetation nur noch ein unwirtlich schwarzes Meer aus Gestein. Der Wind wird immer eisiger, trotz der mitgebrachten Handschuhe sind die Finger steif vor Kälte. Ruth ringt nach Luft, das Asthma ihrer Kindheit ist wiedergekehrt. Die Schwefeldämpfe aus dem Berg rauben ihr den Atem. Der Führer gibt ihr eine Schutzmaske. Nun müssen alle Helme aufsetzen. Ruth beginnt Ingrid Bergmans Hysterie zu verstehen. Es wird dunkel. Noch ein letztes Stück, dann nehmen sie an einem Grat Aufstellung und schauen fasziniert hinunter in mehrere Schlünde, die Feuer speien, mal der eine, mal der andere. Es ist wie Dantes Hölle, und unschwer kann man sich vorstellen, wie der nackte Körper eines armen Sünders mit einem letzten Schrei in die Feuersglut taumelt. Die Zuschauer stehen in gebührendem Sicherheitsabstand aufgefädelt, und wenn einer der Krater besonders wütend zischt und spuckt, klatschen sie Beifall. Auf der anderen Seite kugeln den nicht einsehbaren Nordwesthang große Lavabrocken hinunter und stürzen mit Getöse ins aufspritzende Wasser. Auf dem Meeresgrund töten sie alle Lebewesen, die nicht wie die intelligenten Kraken mit ihrem feinen Gehör rechtzeitig das Weite gesucht haben.
Inzwischen ist es stockfinster geworden, und der Gänsemarschabstieg beginnt. Erst spät zeigt sich der Vollmond hinter der Bergkuppe und malt einen silbernen Streifen auf das Meer tief unten. Benedetto und Ruth bleiben zurück. Sie wollen die Stille genießen und ohne ihre Taschenlampen gehen, das Mondlicht ist hell genug. Tief sinken die Füße ein in dem feinen Lavasand, der in die Bergschuhe rieselt. Immer wieder müssen sie anhalten, um die Schuhe von ihrer bleischweren Last zu befreien. Im Slalom läuft es sich die steile Piste leichter hinab, es ist wie Skifahren im
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