Mein Erzengel (German Edition)
Sand. Dann beginnt wieder die Vegetation. Bisweilen versteckt sich der Mond hinter den mannshohen Büschen, doch immer noch machen sie ihre Taschenlampen nicht an, bewegen sich tastend durch die weiche Finsternis. Ab und zu bleiben sie stehen, um einander zu umarmen. So nah werden sie sich einander nie wieder fühlen. An der Mole wartet ein Boot mit Außenbordmotor, um sie zum Katamaran zurückzubringen.
Benedetto warnt sie vor den Gefahren der Stadt, wir sind hier nicht in Europa, sagt er, in Neapel beginnt die Dritte Welt. Wenn Ruth alleine ausgeht, soll sie keinen Schmuck tragen und ihre Scheck- und Kreditkarten zu Hause lassen, am besten sie steckt sich nur einen Zwanzigeuroschein in die Hosentasche.
Auf den Treppen zur wuchtigen Chiesa del Gesù Nuovo lungern wie jeden Tag ein paar unrasierte Männer mit ihren Hunden. Sie betteln nicht, sitzen nur da, rauchen, unterhalten sich und blinzeln in die blasse Sonne. Von ihrem Posten aus überschauen sie die gesamte Piazza mit der hohen Pestsäule in der Mitte. Jetzt vor Weihnachten ist der Platz voll mit Menschen, die Einkaufstüten schleppen. Wirft ein Passant den Männern eine Münze hin, heben sie sie auf.
Im Vorübergehen dringen Fetzen einer vertrauten Sprache an Ruths Ohr. Wie angewurzelt bleibt sie stehen.
«Seid ihr Holländer?», fragt sie.
«Niederländer», sagt einer von ihnen mit einem Anflug von Ironie und streckt ihr die Hand hin. «Ich heiße Toni.»
Toni ist ein gebeugter, dünner Mann um die fünfzig, auf dem Kopf eine Schirmmütze. Für einen Obdachlosen ist seine Kleidung zu sauber.
Ruth kann nicht widerstehen, wickelt sich den Schal fester um den Hals und setzt sich zu ihm in die Sonne. Sie hat Lust, sich in seiner Sprache mit ihm zu unterhalten.
Toni ist ohne Scheu, antwortet freimütig auf ihre Fragen. Vor acht Jahren hat er seine Heimat verlassen, die Eltern waren gestorben, die Ehefrau hatte sich mit einem anderen abgesetzt, es hielt ihn nichts mehr in Utrecht.
«Wenn man sein Leben lang in einem so kleinen, spießigen Land verbracht hat, mit so viel Wasser überall, will man auch mal raus», sagt Toni.
Großbritannien, Frankreich, Spanien, Deutschland, Österreich – überall ist er schon gewesen. Als Informatiker fand er immer wieder Arbeit, lebte bescheiden und sparte, um nach einiger Zeit weiterzuziehen. In Neapel blieb er dann hängen, der Intelligenz und Lebendigkeit der Neapolitaner, sagt er, hat er nicht widerstehen können. Obwohl es gerade hier kaum möglich sei, einen regulären Job zu finden.
«Aber ich komme durch.» Er zwinkert Ruth zu. «Einer mit Grips geht hier nicht unter.»
«Und außerdem gibt’s den da.» Er zeigt auf seinen bärtigen Kumpel, mit dem er sich vorhin unterhalten hat.
«Hallo», sagt Ruth, der Mann schaut sie nur mürrisch an und schweigt.
«Ich bin zu Besuch bei einem Liebhaber», sagt sie, um irgendetwas von sich zu erzählen. Ihren Beruf behält sie lieber für sich.
«Und wieso sprichst du Niederländisch? Das ist ja nicht gerade eine Sprache, mit der man in der Welt herumkommt.»
«Ich war mal mit einem Holländer verheiratet und habe einige Jahre in Amsterdam gelebt.»
«Aha, der unbezwingbare Charme des holländischen Mannes!»
«Na ja, es hat sich in Grenzen gehalten.»
«Wie heißt denn dein Ex? In unserem kleinen Land kennt jeder jeden.»
Ruth hat keine Lust, über Michaël zu sprechen, sie versucht das Thema zu wechseln, aber Toni lässt nicht locker. Immer noch fällt es ihr schwer, Michaëls Namen auszusprechen.
«Na klar kenn ich den!», ruft Toni aus.
«Mach keine Witze!»
«Logo. Das ist der Typ, der diese Rettungsaktion für die Kriegsflüchtlinge organisiert hat. Es stand mehrmals was über ihn in der Zeitung. Der hat mir damals ziemlich imponiert. Anstatt ziellos umherzuirren wie ich, hat er für sich eine Aufgabe gefunden, eine sinnvolle. Ich hab ihn sogar angerufen und meine Dienste angeboten. Da hat er mich ausgefragt, warum ich mitmachen will. Nur so, aus Langeweile, hab ich gesagt. Da hat der mich aber angeschnauzt! Du meine Güte! Was ich mir einbilde, es geht um Menschenleben, das ist kein Spiel für verwöhnte Mittelschichtkinder, was ich gar nicht bin. Ist schon gut, hab ich gesagt, dann eben nicht. Er hat aufgelegt, ohne sich zu verabschieden. Ein ganz schön harter Brocken, dein Ex. Aber imponiert hat er mir trotzdem.»
Ruth bereut, Toni angesprochen zu haben, und macht Anstalten, sich zu verabschieden.
«Und dann hab ich nachgedacht: Verbeke,
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