Mein Erzengel (German Edition)
Verbeke … den Namen kenn ich doch.»
«So heiß ich auch», sagt sie bitter.
«Und schließlich ist es mir wieder eingefallen.»
«Was denn?» Ihr Herz schlägt schneller.
«Das erzähl ich dir nur, wenn du kurz mitkommst. Ich will dir zeigen, wo ich wohne.»
Die Begegnung fängt an, aus dem Ruder zu laufen. Sie sollte lieber gehen. Was wird er schon zu erzählen haben? Wer weiß, wo er wohnt, mit zwanzig Euro in der Tasche kann sie sich nicht einmal ein Taxi für den Rückweg nehmen. Sie schlägt vor, ihn zum Essen einzuladen, sie müsste nur schnell in Benedettos Wohnung hinauf, um ihr Portemonnaie zu holen, es ist ja gleich um die Ecke. Aber Toni lehnt ab, seine Geschichte sei zu persönlich, um in der Öffentlichkeit erzählt zu werden. Da sie sich auf Niederländisch unterhalten, leuchtet ihr dieses Argument zwar nicht ein, aber sie beschließt, ihm zu vertrauen. In letzter Zeit hat sie viel darüber nachgedacht, wie die ihr verbleibende Lebensspanne aussehen soll, und sich vorgenommen, von nun an anzunehmen, was das Leben ihr bietet. Jetzt ist sie eben neugierig, wie ein Gammler in Neapel lebt.
Was kann ihr schon passieren mit ihren bald sechzig Jahren? Es wäre nicht das erste Mal, dass sie mit einem fremden Mann mitgegangen ist. Als sie um die zwanzig oder noch jünger war, fehlte ihr jeglicher Sinn für die Gefahren, denen junge Frauen auch heute noch ausgesetzt sind. Sie wollte nicht zur Kenntnis nehmen, dass sie nicht einfach tun konnte, was ihr gerade in den Sinn kam. Das war längst noch kein Feminismus damals, nur eine trotzige Kühnheit, die in einem seltsamen Gegensatz zu ihrer sonstigen Schüchternheit stand.
Wie sie in den Lieferwagen des Marokkaners gelangt war, weiß sie nicht mehr, wahrscheinlich wollte sie per Anhalter zu einer bestimmten Londoner Adresse, mitten in der Nacht. Auf jeden Fall hockte sie zwischen klappernden Milchflaschen im Dunkel, bis der Wagen in einer Sackgasse zum Stehen kam. Mit psychologischem Geschick redete sie auf ihn ein, appellierte so lange an seinen Beschützerinstinkt, bis er sie laufen ließ. Die Leute, zu denen sie wollte, waren nicht zu Hause, sie hatte keine Bleibe für die Nacht und kein Geld. Der freundliche Student aus Ceylon, der sie schließlich auflas, labte sie mit einem improvisierten Gericht aus Reis und Sardinen, brachte ihr bei, mit den Fingern zu essen, und ließ sie mit in seinem Bett schlafen. Es war eine schöne Nacht, er hatte glatte braune Haut, und von Aids hatte man noch nie etwas gehört.
Der Pole in Warschau war weniger freundlich. Ruth befand sich mit einer größeren Gruppe junger Leute in einer Plattenbauwohnung. Sie wollten den Nachmittag gemeinsam verbringen, Ruth war glücklich, nicht immer mit der Mutter beisammen sein zu müssen, doch plötzlich waren alle weg bis auf einen. Es war ein abgekartetes Spiel, was sie umso mehr kränkte, als sie sich im Sozialismus wähnte. Sie war allein mit einem Mann, mit dem sie sich nicht unterhalten konnte, neben Polnisch sprach er nur noch Bulgarisch. Da hatte Ruth keine Chance mit ihrer psychologisch schlauen Rede, die sie zwei Jahrzehnte später auch in Mosambik schützen sollte, wo die Nacht so schwarz war, dass sie sich notgedrungen einhaken musste, um auf dem unbefestigten Pfad, der zur Tanzfläche unterm Sternenhimmel führte, nicht in ein Erdloch zu stürzen, sich abstützen musste bei dem wildfremden schwarzen Mann, der anderes vorhatte, als sie zum Tanzen zu begleiten. Mit ihren paar Brocken Portugiesisch überzeugte sie ihn, damals schon Feministin, von der Richtigkeit des sozialistischen Emanzipationskonzepts, das sich seine Regierung zum Ziel gesetzt hatte. Sie kam ungeschoren davon, vielleicht hatte er die Lust verloren, sich mit so einer einzulassen, vielleicht schützte sie aber auch ihre weiße Haut.
Doch mit dem Polen konnte sie nicht sprechen. Als sie schrie, schlug er sie ins Gesicht und schloss das Fenster. Er schien der Meinung zu sein, ein Recht auf ihren Körper zu haben. Seltsam, wie Ruth im Augenblick der akuten Gefahr kühl abwog zwischen unerwünschtem Verkehr und der Aussicht auf weitere Misshandlungen, er hätte ja auch ein Mörder sein können. Sie entschied sich für passives Gewährenlassen, so wie es die Polizei in späteren Jahren Frauen in ähnlicher Lage empfahl. Außerstande, zwischen erzwungenem und freiwilligem Beischlaf zu unterscheiden, hatte der Mann keine Freude an ihr und beklagte sich bitter über mangelnde Leidenschaft ihrerseits. Nach
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