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Mein Erzengel (German Edition)

Mein Erzengel (German Edition)

Titel: Mein Erzengel (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Erica Fischer
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Ende des Krieges aus dem Londoner Exil allen Kollaborateuren mit Strafverfahren drohte, hatte wenig zu sagen, als die Deutschen anfingen, die Juden ins Durchgangslager Westerbork zu deportieren – mit Hilfe der niederländischen Eisenbahnen. Von der Polizei wollen wir erst gar nicht reden. Denen galten die Helden des Widerstands als dreckige Kommunisten. Sie hatten den Auftrag, gefälschte Ausweispapiere ausfindig zu machen und die Inhaber anzuzeigen. Und das haben sie auch getan. Von wegen aufrechte Haltung, die unsere Königin ihren Untertanen attestiert hat! Ich könnte mich stundenlang weiter aufregen, aber ich will dich nicht langweilen.»
    Das meiste ist Ruth nicht neu, vieles davon hat ihr Michaël fast wortwörtlich erzählt.
    «Hast du mit Michaël über diese Dinge gesprochen?»
    «Ja, wir haben uns viel darüber unterhalten, wie man sich in den Niederlanden nach dem Krieg in die Tasche gelogen hat. Soweit wir das halt damals verstanden haben, wir waren ja noch Kinder. Ich habe in diesen Gesprächen das große Wort geführt, denn ich wusste eine Menge von meinen Eltern. Die haben sich tierisch über die Amnestien aufgeregt, die ganze Sondergerichtsbarkeit hatte sich ja 1951 schon erledigt, also vor meiner Geburt. Für meine Eltern blieben Leute wie Michaëls Vater Landesverräter und Kriegsverbrecher, die ihrer Meinung nach hätten an die Wand gestellt werden sollen, auch wenn man gar nicht wusste, was sie wirklich verbrochen haben. Tatsächlich hingerichtet wurden aber ganz wenige. Und eine Sache, die man ihm anlastete, wäre vielleicht auch nicht verjährt. Willst du sie hören?»
    Ruth ist erschöpft, einerseits glücklich über diese unerwarteten Informationen, andererseits angewidert. Sie nickt nur.
    «Nicht weit von unserem Haus haben Nachbarn eine jüdische Familie versteckt, ein Ehepaar mit einem fünfjährigen Sohn. Meine Eltern haben es gewusst und ihnen immer wieder Lebensmittel hinübergebracht. Und eines Abends haben die Moffen das Haus mit großem Trara umzingelt, die Nachbarn und die versteckten Juden abgeführt und das Haus abgefackelt. Man hat nie wieder was von ihnen gehört. Verbeke war damals schon wieder in Meerwijk, er wurde gleich zu Beginn des Russlandfeldzugs verwundet und nach Hause geschickt. Vielleicht wollte er seinem Vaterland auf diese Weise dienen. Mit einem Wort, er soll sie denunziert haben. Aber wie gesagt, es konnte ihm nicht nachgewiesen werden. Ich glaub nicht, dass Michaël herausgefunden hat, ob es wahr ist oder nicht.»
    Mit wem hat sie an einem Tisch gesessen, wessen Appeltaart hat sie gegessen? Wieso hat Michaël nie herausgefunden, was sein Vater getan hat? Oder hat er und mochte ihr davon nicht erzählen, so wie ihr eigener Vater ihrer jüdischen Mutter die antisemitischen Bemerkungen seines Vaters verschwiegen hat, um sie zu schonen?
    Toni hält den Kopf gesenkt und denkt mit halbgeschlossenen Augen nach. «Michaël hatte es wirklich nicht leicht. Sein Vater hat immer mit Hochachtung vom Soldatischen der Deutschen gesprochen.»
    «Da hatte er wohl mit einem Schlappschwanz wie Michaël seine liebe Not.»
    «Das kannst du laut sagen. Er war verzweifelt, vor allem, als Michaël sich dann auch noch radikalisiert hat. Wir sind beide als Schüler nach Amsterdam gefahren, um an Friedensdemonstrationen teilzunehmen und Häuser zu besetzen, aber Michaël war immer radikaler als ich. Mit dem Vater hat er praktisch überhaupt nicht mehr geredet. Und der hat ihm auch schon bald jede finanzielle Unterstützung verweigert, sagte, der Kommunist Michaël verschenke es ja doch bloß. Da war es nur die logische Konsequenz, dass Michaël sich nach Österreich verzogen hat.»
    Toni setzt sich zu ihr aufs Bett, legt den Arm um ihre Schulter und versucht sie zu küssen. Ruth dreht sich weg.
    Einen Augenblick lang hat auch sie daran gedacht, dass Sex mit Toni eine Möglichkeit wäre. Die kehligen Laute des Niederländischen, die sie sich in jahrelanger Mühe angeeignet hat, lösen in ihr Erinnerungen an eine glückliche Zeit aus. Amsterdam in den Neunzigern, die Puppenwohnung unter dem Dach im Stadtteil de Jordaan, das gemeinsame Arbeitszimmer mit Michaël, er an seinem PC, sie mit dem Rücken zu ihm über eine Arbeit gebeugt, den feinen Schlauch der Gaspistole im Mund, ihr Arbeitsplatz quasi eingezäunt von einer halbkreisförmigen Fläche an der Wand, einer leuchtend gelben Sonne, die sie gemeinsam entworfen und lackiert hatten. Ein Anflug von schlechtem Gewissen, wenn Ruth mit dem

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