Mein Erzengel (German Edition)
Metallhammer gegen den Ring schlug, der auf dem Ringeisen aus Stahl steckte, ein heller nerviger Ton. Michaël beklagte sich nie, aber es musste ihn stören, bei seinen empfindlichen Ohren. Wenn sie eine fertige Arbeit polieren musste, wartete sie, bis er auswärts zu tun hatte, so viel Lärm wollte sie ihm nicht zumuten. Er selbst schnaubte nur manchmal oder murmelte beim Schreiben leise vor sich hin. War er fertig mit seinem Text, bat er sie stets, ihr vorlesen zu dürfen. Oft war sein Holländisch so kompliziert, dass Ruth wenig verstand, aber sie ließ es sich nicht anmerken. Nie war etwas dabei, das auch nur entfernt jenen Texten ähnelte, die sie in seinen Kladden gefunden hat. Über diese Texte hätte sie gern mit ihm gesprochen. Warum sind sie so traurig? Was für ein Problem hast du mit Frauen? Warum machst du nicht mehr aus deinem Talent? Ansonsten Stille und Konzentration, kaum je gestört durch einen Anruf, nur das sanfte Rauschen des Gases, Michaëls körperliche Anwesenheit wie ein Schutzschild, besonders wenn es draußen regnete und stürmte. Manchmal stand er auf und schlang seine Arme von hinten um sie.
«Geht’s dir gut?»
«Ja, Liebster, es geht mir gut.»
Das erinnerte Ruth an ihren Vater, der die Kinder zu guter Laune ermunterte.
«Sind wir traurig?»
«Neeeiiin!»
«Sind wir glücklich?»
«Jaaa!»
Oder Michaël pirschte sich an ihren Arbeitstisch heran und sah zu, was sie gerade tat.
«Was passiert mit diesem Bernstein?»
«Zuerst mache ich die Fassung. Sie muss fest sitzen, aber nicht zu fest, damit der Bernstein nicht bricht. Er ist ja ein fossiles Harz, das man auch leicht zerkratzen kann. Dann löte ich die Fassung auf diese Silberplatte, aus der ich innen ein Stück herausgesägt habe, damit die Brosche nicht zu schwer wird. Da, wo man es nicht sieht. Und dann klebe ich den Bernstein hinein. Bei richtigen Steinen braucht man nicht zu kleben. Man feilt und schmirgelt die Fassung an den Rändern dünn und glatt und hämmert sie dann vorsichtig mit einer Punze an den Stein. Wenn man es richtig macht, lässt er sich nie wieder bewegen. Hast du gewusst, dass Bernstein bis zu 260 Millionen Jahre alt sein kann? Einmal würde ich gern ein Stück mit einem Einschluss finden, irgendein Insekt aus uralter Zeit. Das wäre aufregend. Wir müssten an die Nordsee fahren und auf einen Sturm warten.»
Wenn Michaël solche Fragen stellte, war Ruth glücklich. Die technische Seite ihrer Arbeit interessierte ihn, zum eigentlichen Ergebnis sagte er wenig. Bloß «schön», ohne tiefere Anteilnahme. Ruth wusste, dass ihre Sachen schön waren, und sie hatte Verständnis dafür, dass Michaël mit Äußerlichkeiten wie Schmuck nicht viel anfangen konnte.
Abends gingen sie ums Eck zum Italiener oder Indonesier oder auch nur auf ein Glas Rotwein, wenn das Geld in der Haushaltskasse nicht reichte, und redeten über den gemeinsam verbrachten, ereignislosen Tag. Selig ließ sich Ruth tragen von seinem tiefen Bass und dem angeregten Geplauder der jungen Menschen ringsum. Und dann nachts einschlafen in Löffelstellung. Tagaus, tagein dasselbe. Zufriedenheit.
Radfahren entlang der Grachten, den frischen Wind im Haar, ein rasches Küsschen, wenn sie an einer Querstraße anhalten mussten, um ein Auto vorüberzulassen. Der Charme der Stadt mit ihren Wasserwegen, Brücken, ineinander verkeilten Fahrrädern und windschiefen schmalen Palästen war wie ein nie verblassendes Desktop-Foto, auf dem ihre alltäglichen Verrichtungen schaukelten, sobald der Tag anbrach. Und an regenfreien Sonntagen Federballspielen im Vondelpark. Keine Leidenschaft, nur ein ruhiges Fließen in betörender Vertrautheit – und die Gewissheit, angekommen zu sein.
Vielleicht ein Jahr lang schwieg Ruth, wenn sie unter Holländern war, versuchte, sich den Klang der neuen Sprache einzuverleiben, hörte viel Radio, schaute sich im Fernsehen Talkshows an. Und dann, eines Tages, fing sie, wie Kinder das tun, mit einem Schlag an zu sprechen. Als sie ausreichend verstand, begann sie niederländische Literatur in Michaëls Muttersprache zu lesen. Besonders die Bücher, die sich mit der Kriegs- und Nachkriegszeit beschäftigten, interessierten sie sehr.
Michaël las ihr auch vor, abends im Bett, aus den Werken von Harry Mulisch, Willem Frederik Hermans, Maarten t’Hart und Joost Zwagerman. Allmählich bekam Ruth eine Vorstellung davon, wie beklemmend die Kindheit und Jugend ihres Mannes als Kind eines Kollaborateurs gewesen sein musste. Sie las
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