Mein Frankreich (suhrkamp taschenbuch) (German Edition)
Revanchismus ist das Negativ der denkenden Dankbarkeit. Wie kein anderer in diesem oder in irgendeinem Jahrhundert hat er klargemacht, daß das Denken ein undankbares Geschäft ist – zumal die intelligible Zukunft heute weniger denn je dem Denken gehört, das über das Nachsinnen und Nachwüten nicht hinauskann, sondern dem Wollen, das Projekte formuliert und Unternehmen ins Werk setzt. Cioran ist nur im Nichtwollen luzide, während das Wollen für ihn – wie für seinen fernen Verwandten Heidegger – ein fremder Modus bleibt. In der Willenswelt faßt er niemals Fuß, vom Pragmatischen will er zeitlebens nichts hören. Er beargwöhnt jene, die glauben können. Sein Haß gilt denen, die wollen können.
Sein undankbares Denken ist der Absurdität verfallen, weil in ihm der Trieb zur Rache an Gott weiter reicht als der Glaube an ihn. Unter dem Vorzeichen des Absurden hielt Cioran, der Priestersohn, eine anachronistische Nachernte zum Zeitalter der religiösen Metaphysik, indem er für sich die Rolle des rückwärtsgewandten Blasphemikers erfand; er übte den Sturz von Idolen, die es als zeitgenössische nicht mehr gab; er vergrub sich in seiner Mansarde wie ein Anachoret, dessen Askese darin besteht, Enttäuschungen aufzutürmen. Kraft seines Revanchismus hielt Cioran ein Leben lang an einer juvenilen, lasterhaften Negativität fest. Es war sein früher und nie revidierter Stolz, sich nicht zur Reife herabzulassen. Dies ist es, was seine Schriften so einzigartig dicht, insistent und monoton macht. Er wußte, daß seine Malaise seine Stärke ist und daß er als Autor nur ein einziges Thema behandeln darf, um nicht ins Beliebige abzusinken. Er hatte es früh genug begriffen: seine einzige Chance bestand darin, sich zu wiederholen. Sartres kritisches Wort, das Laster sei grundsätzlich die Liebe zum Scheitern, 2 hält fest, was Cioran als seine Devise wählten sollte. Gegen Nietzsche, den anderen Pfarrersohn, von dem man weiterhin spricht, hat Cioran durch seine Beharrung auf der Revanche einen wichtigen Punkt markiert. Wenn jener sich dem Versuch verschrieben hatte, sein Denken ganz auf vornehme, bejahende und nicht-reaktive Antriebe zu setzen, hat Cioran sich dem Absinken in die Hölle der Unvornehmheit und der Reaktion überlassen; aus dem Grund seiner Erniedrigung hat er die Entdeckung mitgebracht, daß es eine Großzügigkeit der Rache gibt, die es mit dem allesbejahenden Denken aufnimmt. Sein Werk ist eine Rache ohne Rächer und eine Rückzahlung, die keinen Geschädigten kennt.
Deswegen haben seine Schriften therapeutische Wirkungen. Ihre Deutlichkeit in der Verlorenheit immunisiert gegen die Versuchung, sich formlos aufzugeben. Anders als Nietzsche hat Cioran sich nicht als Überwinder der eigenen Dekadenz gebärdet, vielleicht weil er Nietzsches letzte Illusion, den Krankentraum von der großen Gesundheit, auch noch durchschaute. Er hat seine Dekadenz, seine Morbidität, seine Vorverurteilung zur Skepsis, als Gifte des Seins angenommen und seine Schriften als Gegengifte destilliert. Von dem mögen die Wissenden und Bedürftigen den Gebrauch machen, der ihnen weise scheint. Die Nachahmer jedoch werden in Ciorans Apotheke nicht finden, was ihr Ehrgeiz sucht.
Ich erinnere mich an ein Gespräch mit dem alten Cioran im Deutschen Haus der Cité Universitaire zu Paris Mitte der achtziger Jahre, in dessen Verlauf ich die Rede auf seine argwöhnischen und herabsetzenden Äußerungen über Epikur brachte. Er schien sofort zu verstehen, was ich mit meiner Nachfrage im Sinn hatte. Freimütig erklärte er, er widerrufe seine Aussage und er fühle sich Epikur jetzt sehr nahe, er sehe heute in ihm doch einen der wirklichen Wohltäter der Menschheit. Das Wort Wohltäter, leise ausgesprochen, klang auf seltsame Weise wichtig in seinem Mund. Für diesmal hatte er auf jeden Sarkasmus verzichtet. Vielleicht war im Garten seiner Schlaflosigkeit die Erkenntnis gereift, daß es einer Generosität besonderer Art bedarf, den Menschen den Rückzug von den Fronten des Realen zu gestatten, und daß diese Welt die Lehrer des Rückzugs weniger denn je entbehren kann. Unser Jahrhundert hat keinen entschiedeneren als ihn gekannt.
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1 Nichts gegen das Gift als das Gift selbst.
2 J.-P. S., Das Sein und das Nichts, Reinbek bei Hamburg 1993, S. 663.
Foucault
Daß die gesamte Geschichte der abendländischen Philosophie nichts anderes sei als eine lange Serie von Fußnoten zu Platon: wenn es denn nötig wäre, die bekannte Sottise des
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