Mein Frankreich (suhrkamp taschenbuch) (German Edition)
eine Infragestellung der Existenz und ihrer Fiktionen auf, die tiefer reicht als jede besinnliche, subversive oder aggressive Dekonstruktion. Für das Insomniesubjekt stellt sich auf ungesuchte Weise die Evidenz her, daß alle Akte des naiven wie des kritischen Lebens Abkömmlinge des Schlafprivilegs sind, das seinen Inhabern immer wieder die Rückkehr in eine minimale vitale Illusion ermöglicht. Der Schlaf erfüllt das Verlangen des müden Menschen nach Entlastung durch diskrete Weltuntergänge; er ist die kleine Münze der Erlösung vom Übel; sein Eintreten erhört das natürliche Gebet der Müdigkeit. Ciorans Insomnie-Apriori erschließt hingegen für das Denken die Möglichkeit, daß die Bitte des Subjekts um temporäre Aufhebung des Weltzwangs vom Leben nicht erhört wird. Es ist in diesem Sinne die Meditation des Unerhörten, das als Dauerwachheit ertragen werden muß. Eine solche Existenz ist eine Folter, bei der der Folterer sich nicht identifiziert und seine Fragen nicht präzise stellt. Schon der frühe Cioran denkt aus der Position einer permanenten ontologischen Kreuzigung, die nie an den Punkt anlangt, an dem das Opfer consummatum est sagen dürfte. Weil Schlaflosigkeit kein Werk ist, weder ein erlösendes noch ein aufklärerisches, kann von ihr nie erklärt werden, sie sei vollbracht. Der Schlaflose ist nicht an das Kreuz der Wirklichkeit genagelt, sondern ist in die Gallerte des Halbwirklichen eingeschlossen. Er bringt in Erfahrung, daß das Gallertige unerbittlicher ist als das Harte. Wenn man an diesem zerschellt und sein Ende findet, so wird man von jenem zerrüttet und bleibt für endlose Fortsetzungen aufgespart. Die Schlaflosigkeit ist die Dekonstruktion ohne Dekonstruktivisten.
Cioran hat oft darauf aufmerksam gemacht, daß die charakteristische Regung seines Denkens und Schreibens die Umkehrung eines Fluchs in eine Auszeichnung gewesen sei. Aber wie kann die lähmende Wirkung des verlorenen Schlafs in eine aktive Setzung umgekehrt werden? Auf zweifache Weise: indem der Autor, wie er selbst sagt, seine Zermürbung in eine Auserwählung verwandelt, und indem er aus der Zwangswachheit ein intensives Verlangen nach Rache gewinnt.
Mit beiden Wendungen erweist sich Cioran als judäo-christlicher Theologe im nietzscheschen Sinn des Wortes. Auf ihn treffen die Analysen aus Jenseits von Gut und Böse und Zur Genealogie der Moral über die Herkunft des Theologengeistes aus dem Ressentiment zunächst in vollem Umfang zu. Cioran ist in der Tat ein Theologe der reaktiven Wut, der dem Schöpfergott sein Scheitern und der geschaffenen Welt ihre Unfähigkeit, ihn für das Leben einzunehmen, vorrechnet. Im Modus seiner Reaktion gibt sich Cioran als ein dunkler Doppelgänger Heideggers zu erkennen. Wo dieser die kryptokatholische These ausgearbeitet hat, daß Denken Danken heißt, dort entfaltet Cioran die schwarzgnostische Gegenthese, daß Denken Sichrächen bedeutet. In beiden Fällen ist das Denken ein Entsprechen: ein logisches Sammeln und Zurückgeben dessen, was dem Denkenden durch die Gabe des Seins geschenkt wurde. Aber während Heideggers denkendes Zurückgeben – nach heroischen Anfängen – in mildes positives Antwort-sein-Wollen ausklingt, bleibt in Cioran der Instinkt für eine ungeheure Zurückzahlung scharf. Ihm ist jederzeit klar, daß, wo noch eine Gabe ist, immer auch noch ein Geber bloßzustellen bleibt. Während der vom Schlaf entlastete Geist des Fundamentalontologen stets erneut das Sein als Gebendes und Gabe dankbar meditiert, widmet sich das revoltische, vom Schlafentzug ständig nachgeschärfte Bewußtsein der Aufgabe, das Seinsgift in der eigenen Existenz zu präzisen Immunkräften umzuwandeln und das Vergiftende zu denunzieren. Nihil contra venenum nisi venenum ipse. 1
Es macht Ciorans Singularität aus, daß er eine systematisch revanchistische Praxis des Denkens entfaltet hat. Nicht als Rächer in einer Privatangelegenheit, nicht als Erniedrigter und Beleidigter im soziologischen Sinn zieht Cioran gegen die Versuchungen des Seins und die Einladungen des Glaubens zu Felde, sondern als Medium einer transzendenten Wut und als Agent einer offensiven Skepsis. Er ist ein zorniger Hiob, der seine Defekte als schlagende Argumente gegen den sadistischen Schöpfer vorzeigt. Als Hüter einer auserwählten Wut ist er so selbstlos wie nur je der Stifter eines asketischen Ordens. Als Hüter seines Stolzes auf diese Wut ist er so egomanisch wie nur je ein Satanist. Sein philosophischer
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