Mein Frankreich (suhrkamp taschenbuch) (German Edition)
Kirche, die seit dem frühen 19. Jahrhundert ein Asyl für neue Bodenlose wurde; sie spielte gewiß gern den Schoß für erwachsene Ungeborene, die der Kälte der modernen Außenwelt entgehen wollten. Die Vorhut unter den anonymen Absurden, die den Kern der Moderne ausmachen, versuchte es mit der auf das Leben angewandten Kunst; sie gaben sich selbst Halt in Attitüden und im Leben nach modischen Schnitten. Eine große Mehrheit von Angekränkelten der Bodenlosigkeit jedoch suchten nach Wegen, sich selbst zurückzubetten in das solidarische Leben von Staat, Gesellschaft und Klasse. Der Größte unter denen war kein Geringerer als der Philosoph Hegel, der zu Lebzeiten das Heil fand, indem er Hochämter auf den preußischen Staat als sittlichen Organismus zelebrierte; ihm taten es zahllose Liebhaber der reparierten Ganzheiten nach; so manchem verging im Staatsdienst wie im Revolutionsdienst das mal du siècle ; so viele Holismen, so viele Altäre; andere flohen an die Fronten von heißen und kalten Kriegen. Es versteht sich von selbst, daß die Sucht nach Bindungen eine Fülle von Fundamentalismen heraufbeschwören mußte. Seit zweihundert Jahren ist die Modernität eine Bühne, auf der sich ein einziger Problemstoff in den verschiedensten Stücken realisiert; sie alle könnten heißen: Wie die freien Bodenlosen wieder in feste Verhältnisse kamen.
Was Sartre angeht, so blieb er zeitlebens seiner Weise, die bodenlose Freiheit zu leben, treu. Für ihn war das Nichts der Subjektivität kein herabziehender Abgrund, sondern eine heraufsprudelnde Quelle, ein Überschuß an Verneinungskraft gegen alles Umschließende. Im Unterschied zu vielen Subjektivitätsdenkern hat Sartre sich in seiner Abgründigkeit wohlgefühlt; Anlehnung war für ihn mehr Pflicht als Kür. Was er engagement nannte, war die Fortsetzung des dégagement mit anderen Mitteln; am Vorrang der Loslösung vor der Neuanbindung gab es für ihn keinen Zweifel. Er beherrschte die Kunst, fast alles, was er tun mußte, spontan zu wollen; so kam er, wo es ging, dem Zwang zuvor. Glissez, mortels, n’appuyez pas! , das Wort seiner Großmutter, mehrfach von ihm an exponierten Stellen seines Werks zitiert, gab sein Lebensmotto wieder: Gleitet, ihr Sterblichen, lastet nicht. Als Sartre mit Hegel und Marx auf dem Rücken zu gleiten versuchte, da fing auch er, der unbedingt Elegante, zu lasten an. All seine Versuche, Marxist zu werden, waren eine anstrengende theoretische Komödie, um sich für sein Genie und für sein Bewußtsein, unvergleichlich zu sein, zu entschuldigen. Fast bis zuletzt, blieb er, der auch sein eigener Therapeut sein wollte, unheilbar produktiv.
Es gibt in unserer Zeit kein tieferes Schriftstellerwort als sein spätes Bekenntnis: »Ich habe das geistliche Gewand abgelegt, aber ich bin nicht abtrünnig geworden: ich schreibe nach wie vor. Was sollte ich sonst tun?« Vielleicht war er der fleißigste, tätigste philosophische Autor des Jahrhunderts. Seine vermeintlichen Schulden bei der weniger bevorzugten Menschheit hat er mit hohen Zinsen zurückgezahlt.
Der selbstlose Revanchist
Notiz über Cioran
Man kann die Bedeutsamkeit, oder zumindest die Eigenständigkeit, eines Denkers nicht zuletzt daran messen, wie lange und mit welchen Mitteln er sich seinen Nachahmern entzieht, auch denen, die sich als treue Kommentatoren und berufene Weiterführer seiner Impulse ausgeben. In dieser Hinsicht dürfte Cioran ohne weitere Untersuchung unter die bedeutendsten philosophischen Schriftsteller des 20. Jahrhunderts zu rechnen sein, denn anders als die Starphilosophen des Existentialismus, der Kritischen Theorie oder des Poststrukturalismus, die mit Dissidenz zum Nachmachen ihre Erfolge erzielten, hat Cioran seine denkerische Leidenschaft ungeteilt in seine Unnachahmlichkeit investiert. Doch wird das Konzept Bedeutsamkeit dem Phänomen Cioran nicht gerecht, denn der Grundantrieb seines Denkens ist nicht der, seinen Namen in eine Geschichte der Ideen oder eine Erzählung von großen Autoren eingetragen zu sehen; vielmehr will er den Stolz befriedigt wissen, seine Unnachahmlichkeit gegen Schüler und Kopisten zu verteidigen. Während die Großmeister der modernen Dissidenzkultur, Heidegger, Sartre, Adorno, Derrida, ihre Erfolge in Nachahmerscharen rechnen konnten, hat Cioran, stolzer, dämonischer, verzweifelter als die genannten, seinen Erfolg darin erkannt, potentielle Nachahmer schon auf der Schwelle zum Versuch zu entmutigen. Ihm war bewußt, daß jede
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