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Mein Frankreich (suhrkamp taschenbuch) (German Edition)

Mein Frankreich (suhrkamp taschenbuch) (German Edition)

Titel: Mein Frankreich (suhrkamp taschenbuch) (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Sloterdijk
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der Freudschen Spekulation gelesen, bezeichnet der Ausdruck Exodus jetzt nicht mehr die Sezession des Judentums von der ägyptischen Fremdherrschaft, sondern die Verwirklichung des radikalsten Ägyptizismus mit jüdischen Mitteln. Die Ideengeschichte nimmt von da an die Form eines gewaltigen Verschiebungsspiels an, in dem Motive des ägyptischen Universalismus durch nicht-ägyptische Akteure agiert werden.
    Für den Psychologen mag hierbei besonders auffällig sein, daß Freud in seiner letzten Untersuchung den Begriff des Unbewußten seiner gängigen Definition gemäß kaum noch gebrauchte – als wäre er durch die Einführung der »Entstellung« überflüssig geworden. Man kann den Mann Moses in gewisser Weise wie eine Selbstkorrektur der Psychoanalyse in letzter Stunde lesen. Die Botschaft des späten Freud würde demnach lauten: In letzter Instanz ist nicht das Unbewußte für die Schicksale der Menschen von Belang. Was wirklich zählt, ist das Incognito, das die Quelle der herrschenden Ideen verbirgt. Weil die erfolgreiche Entstellung über die aktive Verheimlichung hinausgeht, ist das ägyptische Incognito bei ihr sicherer aufgehoben, als es dies je beim Direktorium einer Verschwörung sein könnte. Naturgemäß mußte die Figur des Moses die erste sein, die von der Entstellung erfaßt wurde. Nachdem diese ihr Werk verrichtet hatte, war der Führer des Judentums selbst nicht mehr imstande, mit Gewißheit zu sagen, woher er in Wahrheit komme. In einer solchen Lage werden Projekte wichtiger als Ursprünge. Jetzt tritt die Rücksicht auf die Herkunft gegenüber dem Ausblick auf das gelobte Land in die zweite Reihe.
     
    Denkt man die Überlegungen Freuds zur abgründigen Fabrikation der jüdischen Identität zu Ende, wird die irreversible Wirkung des Exodus greifbar: Der Auszug aus Ägypten brachte, nach Freud, die mosaischen Juden als ein heteroägyptisches Volk hervor, das unter keinen Umständen in ein vormaliges Eigentum hätte zurückkehren können, selbst wenn es gewollt hätte. Im Innersten des Eigenen hatte sich die Spur des Anderen unauslöschlich eingeprägt, mochte sie noch so sehr unkenntlich gemacht und von neuen Programmen überdeckt sein. Diese Einprägung reichte so tief, daß sogar das Zeichen für das Eigentümlichste des Eigenen von den Fremden übernommen worden war: Wenn tatsächlich die Beschneidung die Auserwählung bezeichnete, wie Freud zu betonen nicht müde wurde, so war dieses Zeichen von denen geliehen, von denen man sich als ausgewandertes Volk künftig um alles in der Welt unterscheiden wollte.
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    5 Sigmund Freud, Der Mann Moses und die monotheistische Religion, in: Sigmund Freud, Studienausgabe, Band IX , Fragen der Gesellschaft, Urspünge der Religion, Frankfurt am Main 1974, S. 459.
    6 Ibid., S. 493.
    7 Ibid., S. 478.

    3 Thomas Mann und Derrida
    An dieser Stelle klingt mir wieder die Forderung Derridas im Ohr, man möge vorsichtig sein bei Übersetzungen und Umwegen über Kontexte, die von den seinigen oft sehr weit ab liegen. Von ferne hallt in diesem Verlangen die bekannte Mahnung Nietzsches nach: »Verwechselt mich vor allem nicht!« Ich gebe zu, diese Hinweise werden besonders aktuell, wenn wir im folgenden eine Kontextuierung wagen, die den Rahmen von Derridas Selbstaussagen sprengt – und die dennoch, der extremen Verfremdung zum Trotz, möglicherweise sehr dicht an den Nukleus seiner folgenreichsten Operationen heranführt.
     
    Ich werde mir im folgenden die Vorstellung erlauben, daß die schwindelerregende Karriere des in Algerien Geborenen – beginnend in Frankreich, dann in den USA , schließlich im Rest der Welt – auf zwar indirekte und doch persönlich treffende Weise von einem der großen Romanciers des 20. Jahrhunderts prophezeit worden ist. Dies gilt selbstverständlich nicht im Blick auf das Individuum Derrida, sondern auf den Typus des Außenseiters jüdischer Herkunft im allgemeinen, der, von den Rändern des Imperiums kommend, durch gefährliche und überragende Leistungen einen eminenten Platz in der logischen Mitte der Macht erobert. Mir entgeht nicht, daß einem Denker wie Derrida, dem der Respekt vor dem Singulären viel bedeutete, ein solches In-Beziehung-Setzen des Individuellen auf typische Formen zutiefst suspekt gewesen sein müßte – nichtsdestoweniger bin ich der Meinung, für diesmal führe auch eine Reise in der Sänfte des Typus ans Ziel (oder näher zur kritischen Zone), ohne dabei den Interessen des Einzigartigen Unrecht zu

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