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Mein Frankreich (suhrkamp taschenbuch) (German Edition)

Mein Frankreich (suhrkamp taschenbuch) (German Edition)

Titel: Mein Frankreich (suhrkamp taschenbuch) (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Sloterdijk
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sie von dem genialischen, interdisziplinär weit ausgreifenden Kulturhistoriker Franz Borkenau (1900-1957) in seinem posthum erschienenen geschichtsphilosophischen Hauptwerk Ende und Anfang. Von den Generationen der Hochkulturen und der Entstehung des Abendlandes vorgetragen worden ist. Die eingangs zitierte Konfession Derridas, nach der in ihm zwei völlig entgegengesetzte Evidenzen hinsichtlich seines Überlebens als Autor gleichzeitig oder alternierend gegenwärtig waren, ruft bei mir unmittelbar eine Erinnerung an die Grundthesen der Borkenauschen Geschichtsspekulation hervor. In Wien geboren, von halbjüdischer Herkunft, hatte Borkenau sich nach einer streng katholischen Erziehung früh dem Kommunismus zugewandt, war zeitweilig Funktionär des westeuropäischen Büros der Komintern, danach Stipendiat des Frankfurter Instituts für Sozialforschung, und wurde nach seiner Abkehr vom Kommunismus einer der frühesten Kritiker des von ihm so genannten »Totalitarismus« – er publizierte sein Werk The Totalitarian Enemy 1940 in London, mehr als ein Jahrzehnt bevor Hannah Arendt mit dem Politbestseller The Origins of Totalitarianism dem Thema ihren Stempel aufdrückte. In seiner Kulturphilosophie geht es um die gegensätzliche Stellungnahme der Kulturen zum Tode. Während der eine Typus von Kulturen den Tod zurückweist und auf ihn mit einer Unsterblichkeitslehre reagiert, findet der andere Typus sich mit der Tatsache des Todes ab und entwickelt auf dieser Grundlage eine Kultur der engagierten Diesseitigkeit. Borkenau bezeichnete diese bipolaren Optionen als die Todesantinomie. Sie bildet die kulturelle Ausarbeitung jener doppelten Stellungnahme zum Tod, die sich in mehr oder weniger klaren Umrissen in jedem Individuum findet: daß zwar der eigene Tod gewiß ist, aber als solcher unbegreiflich bleibt. Borkenaus Ehrgeiz als Makrohistoriker ging darauf aus, mit Hilfe seiner Lehre von den gegensätzlichen, doch untereinander verbundenen Stellungnahmen der Kulturen zum Tod die geschichtsphilosophische Doktrin Oswald Spenglers zu widerlegen, nach welcher die Kulturen wie fensterlose Monaden jeweils einem unverwechselbaren eigenen »Urerlebnis« entspringen – wir würden heute sagen: einer primären Irritation –, um, ohne jeden wirklichen Austausch untereinander, in einem ausschließlich endogen geprägten Lebenszyklus von jeweils eintausend Jahren aufzublühen und zu verwelken. In Wahrheit fügen die Kulturen, nach Borkenau, sich untereinander zu einer Kette, deren einzelne Glieder nach dem Prinzip des Gegensatzes zum vorangehenden Glied miteinander verbunden sind. Dies ist der Sinn seiner Rede von Kulturgenerationen.
     
    Es kommt nicht überraschend, daß diese ambitionierten Konzepte nicht zu einer allgemeinen Kulturgeschichte ausgebaut werden konnten. Borkenau war allenfalls imstande, eine einzige Kulturgenerationenkette halbwegs überzeugend zu beschreiben – keine beliebige freilich, da es die Sequenz ist, in welche die Hauptakteure des okzidentalen Kulturdramas involviert sind. Die Serie beginnt unvermeidlicherweise mit den Ägyptern, die durch ihren Pyramidenbau, ihre Mumifizierungen und ihre umfangreichen Kartographien des Jenseits ihrer Besessenheit von der Unsterblichkeit – insbesondere einer körperlich verstandenen – ein bis heute eindrucksvolles Denkmal gesetzt haben. Die Antithese zum Ägyptizismus wurde von den folgenden Kulturen der Todeshinnahme entwickelt, die wir als die Antike bezeichnen – zu ihnen gehören die Griechen und Juden, in zweiter Linie auch die Römer. Bei diesen Völkern wurden die enormen psychischen Energien, die im ägyptischen Regime (wie in den Industal-Kulturen) durch Immortalisierungsarbeiten gebunden waren, für »alternative Aufgaben« freigesetzt. Sie konnten folglich für die Ausgestaltung des politischen Lebens in endlicher Zeit verwendet werden – das mag einer der Gründe dafür sein, warum die Erfindung des Politischen als die gemeinsame Leistung der antiken mediterranen Sterblichkeitskulturen gelten darf. Zwischen den Polen von Athen und Jerusalem, die man sonst gern gegeneinander ausspielt, gibt es in dieser Hinsicht bezeichnenderweise keinen nennenswerten Gegensatz. Hier wie dort herrscht der Grundsatz, öffentliches Leben in moralisch anspruchsvollen Volksgemeinschaften oder sinnvoll kooperierenden Bürgerschaften kann nur entstehen, wenn die Menschen nicht unentwegt an das Überleben ihrer Körper oder Seelen im Jenseits denken, sondern für die Aufgaben der

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