Mein Frankreich (suhrkamp taschenbuch) (German Edition)
tun.
In bemerkenswerter Gleichzeitigkeit mit dem hochbetagten Freud war Thomas Mann auf die Aktualität der alttestamentarischen Stoffe aufmerksam geworden und hatte sich, wie er später in einem bekannten Statement sagte, von den späten zwanziger Jahren des 20. Jahrhunderts an der Aufgabe gewidmet, dem intellektuellen Faschismus den Mythos streitig zu machen, um ihn ins Humane umzuwenden. Man kann seiner zwischen 1933 und 1943 erschienenen Romantetralogie Joseph und seine Brüder eine Schlüsselstellung in der Literatur- und Ideengeschichte des 20. Jahrhunderts zusprechen – zum einen, da es das heimliche Hauptwerk der modernen Theologie darstellt, das dank einer erneuten List der »Entstellung« außerhalb der theologischen Fakultäten das Licht der Öffentlichkeit erblickte; zum anderen als eine große Parallelaktion zu den Sondierungen Freuds, in der die unermeßlichen Implikationen ausgelotet wurden, die sich aus einer psychoanalytischen und romanesken Subversion der Exoduserzählung ergeben würden. Wenn der Auszug der Juden aus Ägypten tatsächlich eine Fortsetzung des Ägyptertums mit anderen Mitteln bedeutete – und Thomas Mann gelangt auf seine Weise zu ähnlichen Konklusionen wie Freud –, konnte es nur eine Frage der Zeit sein, bis die jüdischen Heteroägypter auf die Idee kämen, ihre Beziehungen zu den Homoägyptern – wenn man sie so nennen darf – zu überprüfen.
Thomas Mann fand den Drehpunkt zwischen dem Auszug aus Ägypten und der Einwanderung dorthin in der Geschichte des jungen Joseph. Dieser war, wie man weiß, als der jüngste Sohn der Liebling Jaakobs – weswegen er von seinen Brüdern gehaßt wurde, mit der Konsequenz, daß sie ihn eines Tages überfielen und, um ihn loszuwerden, an midianitische Menschenhändler verkauften. Diesem Verbrechen haftet, wie der Erzähler zeigt, eine tiefe Mehrdeutigkeit an. Es eignet sich nicht nur dazu, das Geheimnis der Ungerechtigkeit darzustellen, das von der bevorzugenden Liebe untrennbar ist und in die Entstehung der Eifersucht einfließt; es bietet zugleich eine vorzügliche Gelegenheit, das zunächst nur blasphemisch vorstellbare Problem einer Revision des jüdischen Verhältnisses zu Ägypten zu behandeln. Thomas Manns Ironie gibt dem Leser, der bereit ist, den Wink aufzufangen, einen verborgenen Hinweis, wonach einem begabten Sohn des Stammvaters Jaakob eigentlich in seinem ganzen Leben nichts Besseres widerfahren konnte, als nach Ägypten verkauft zu werden. Wenn dieser Joseph auch, von seinen Brüdern in Ruhe gelassen, bei den Brunnen Israels ein angesehener Besitzer einer Schafherde hätte werden können, oder ein Züchter von Oliven, der mit frommer Sammlung dem Wachstum der Bäume lauschte, so standen in Ägypten doch andere Laufbahnen offen – vorausgesetzt, der Neuankömmling vermochte aus seiner unfreiwilligen Einwanderung Vorteil zu ziehen. Thomas Manns Erzählung liefert den am weitesten ausholenden Kommentar zu dem Topos »Glück im Unglück«. Tatsächlich könnte ein mittels zweiter Entstellung nach Ägypten eingeschleppter alerter Heteroägypter die Fähigkeit mitbringen, die Homoägypter besser zu verstehen, als sie sich selbst verstehen. Diese hermeneutische Überlegenheit wäre ein Geschenk seiner spezifischen Marginalität – und wirklich wird es diese sein, die sich als der Schlüssel zu Josephs ägyptischen Erfolgen erweist. Begnügen wir uns hier mit der Bemerkung, daß die Deutung der Träume des Pharao durch den bald unentbehrlich gewordenen jungen Hermeneutiker, wie Thomas Mann sie mittels einer subtilen Parodie der Psychoanalyse vorführt, zu den klangreichsten Szenen der modernen Weltliteratur rechnet. 8
Wenn ich eben angedeutet habe, dem Romancier Thomas Mann könnte eine unfreiwillige Prophezeiung des Phänomens Derrida geglückt sein, bezieht sich dies auf die wunderbare Figur des Joseph oder, besser, auf die josephische Position als solche, als deren Merkmal man das Zum-Erfolg-in-Ägypten-verdammt-Sein herausstellen muß. Zu ägyptischen Erfolgen gelangt der mit leeren Händen Angekommene, wie man weiß, ausschließlich über den schmalen Grat der Kunst, die für die Ägypter nicht-lesbaren Zeichen zu lesen – im gegebenen Fall über die Traumdeutung. Thomas Mann hatte die Karriere Sigmund Freuds vor Augen, dem es dank seiner Vorschläge zu einer Wissenschaft der Traumlektüre gelungen war, die spätfeudale Gesellschaft der habsburgischen Austro-Ägypter von seinen Interpretationen abhängig zu
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