Mein Frankreich (suhrkamp taschenbuch) (German Edition)
machen. Auf seine Weise hatte Freud die josephische Position reaktualisiert und damit zahlreichen Nachfolgern einen Hinweis hinterlassen, den die Jüngeren nicht unbeachtet lassen sollten. Natürlich hatten diese Autoren für ihre Rückwege nach Ägypten nicht mehr die Straßen des Sklavenhandels benutzen müssen; die Diaspora hatte ihrerseits dafür gesorgt, daß aus dem Exodus für viele eine partielle Kehre wurde. In die logische und psychologische Zitadelle des Ägyptertums jedoch konnte man auch in moderner Zeit nur mit ebenso anspruchsvollen Mitteln wie zu Josephs Tagen gelangen, und zwar über die Wissenschaft von den Zeichen. Daher ist Traumdeutung nicht nur der Königsweg zur Psyche, sie ist zugleich das straff gespannte Seil, über das der heteroägyptische Semiologe bei seinem Weg ins Innere der pharaonischen Institutionen balancieren muß. Dabei wird ihm von Anfang an klar sein, daß er sein Glück nur versuchen kann, indem er die symbolischen Fabrikationen der Mächtigen einer für diese selbst hinreichend faszinierenden Analyse unterzieht.
Hier ist der Hinweis am Platz, daß marxistische Interpreten des Messianismus wie Ernst Bloch und Walter Benjamin, nur eine Generation nach Freud, den damals zeitgerechten Versuch unternahmen, eine zweite, nicht-freudianische Traumdeutung zu entwickeln. Bei dieser standen nicht mehr so sehr die Träume der Herrschenden (und ihrer Gattinnen) im Zentrum – vielmehr waren diese Autoren darauf aus, eine Massentraumdeutung ins Werk zu setzen, in deren Verlauf die proletarischen und volkstümlichen Träume vom besseren Leben zu einer politischen Produktivkraft erhoben werden sollten. Den Kern der zweiten Traumdeutung bildete die Deutung der Zeichen und Spuren, mit denen die Menschheit von den Tagen des Altertums an, der messianischen Deutungsweise zufolge, den Kommunismus vorwegnahm. Bemerkenswert war, wie hierbei die therapeutische Beschränkung auf den nächtlichen Traum beiseite gestellt wurde, so daß jetzt in erster Linie die Tagträume und die bewußten utopischen Konstrukte in das Geschäft der neuen Hermeneutik zu integrieren waren. Der Fall Benjamin zeigt freilich auch, wie eine josephische Karriere vor solchem Hintergrund mißglücken kann. An Ernst Bloch hingegen ist die Lektion abzulesen, wonach es dem Traumdeuter, bei ausreichend heftigem prophetischem Feuer, letztlich gleichgültig bleibt, ob sich die Massen für die politisch-theologische Deutung ihrer Träume interessieren oder nicht.
Bei dieser Präsentation der Zusammenhänge liegt auf der Hand, warum Derridas Dekonstruktion als eine dritte Welle der Traumdeutung aus der josephischen Position verstanden werden muß. Für sie war a priori klar, sie könne nur reüssieren, wenn sie weit genug über die Modelle der Psychoanalyse und der messianischen Hermeneutik hinausginge. Nach Lage der Dinge hatte dies in Form einer radikalen Semiologie zu geschehen, die den Nachweis erbrachte, daß die Zeichen des Seins nie die Fülle des Sinns liefern, die sie zu geben versprechen – was eine andere Art ist zu sagen: Das Sein ist kein wirklicher Absender, und das Subjekt kann kein Ort vollkommener Sammlung sein. Derrida interpretierte die josephische Chance, indem er zeigte, wie der Tod in uns träumt – oder, anders ausgedrückt: wie Ägypten in uns arbeitet. »Ägyptisch« ist das Prädikat aller Konstrukte, die der Dekonstruktion unterliegen können – ausgenommen das ägyptischste aller Gebilde, die Pyramide. Sie steht für alle Zeiten unerschütterlich an ihrem Ort, weil ihre Form nichts anderes ist als der undekonstruierbare Rest einer Konstruktion, die dem Plan des Architekten zufolge so gebaut wird, wie sie nach ihrem Einsturz aussehen würde.
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8 Da an dieser Stelle ein rein typologisches Argument entwickelt wird, brauche ich auf den Umstand, daß die chronologischen Verhältnisse der hier entwickelten Deutung im Weg stehen, keine Rücksicht zu nehmen. Da die biblische Josephsgeschichte in die Ära vor dem Exodus fällt, ist das Schema »zurück nach Ägypten« auf den ersten Joseph noch nicht so anwendbar wie bei den späteren Akteuren auf der josephischen Position.
4 Franz Borkenau und Derrida
Von dieser typisierenden Rahmung des Derridaschen Ansatzes zurückkommend, möchte ich eine weitere Kontextuierung seines Œuvre vorschlagen, die uns wieder näher zum Text des Philosophen führt. Diesmal handelt es sich um eine große Erzählung von den Antworten der Zivilisationen auf den Tod, wie
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