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Mein Frankreich (suhrkamp taschenbuch) (German Edition)

Mein Frankreich (suhrkamp taschenbuch) (German Edition)

Titel: Mein Frankreich (suhrkamp taschenbuch) (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Sloterdijk
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Archiv der Statthalter des Unendlichen im Endlichen; es gleicht einem Gebäude mit fließenden Mauern, wie Salvador Dalí es entworfen haben könnte – in Wahrheit sogar einem Haus ganz ohne Mauern, das unendlich viele Bewohner mit unvorhersehbar verschiedenen Meinungen bewohnen. Für Groys hingegen ist das Archiv eine endliche und diskrete Institution. Es ist nicht das imaginäre, sondern das intelligente Museum. In dieser Eigenschaft ist es von neo-ägyptischer Exklusivität. In ihm werden immer nur konkrete Innovationen mit konkreten Objekten der bisherigen Sammlung verglichen und auf ihre Sammlungswürdigkeit hin bewertet. Das Groysche Archiv ist ein Bestattungsinstitut der Weltkunst und der Weltkulturen – es ist der Ort, an dem, wie angedeutet, nach einem nie ganz durchschaubaren Gesetz der Auswahl eine Mehrzahl von Personen mit ihren Werken die Unsterblichkeit erlangen können.
     
    Die museologische Wende der Philosophie darf nicht mit dem Übergang in eine andere Gattung verwechselt werden; sie hat auch nichts von einem Ausweichen in weniger anspruchsvolle Bereiche an sich. Sie bleibt im präzisen Sinn des Wortes philosophisch, weil sie den tiefsten Gedanken der Metaphysik, die ontologische Differenz, wie Heidegger sie beschrieb, auf die kompakteste Weise neu interpretiert. Der Unterschied zwischen Sein und Seiendem – vormals zwischen dem Ewigen und dem Vergänglichen – erhält bei Groys ein hartes und konkretes Format: Er bezeichnet jetzt den Gegensatz zwischen dem, was in der generalisierten Grabkammer der Pyramide, das heißt im Archiv oder Museum, gesammelt werden kann, und dem, was für immer außerhalb dieser Kammer bleibt – die endlose und beliebige Fülle der Phänomene, die unter Titeln wie Lebenswelt, Wirklichkeit, Existenz, Werden, Geschichte und dergleichen beschrieben werden.
     
    Hieraus folgt, daß Groys Derridas Deutung der platonischen chora nicht zustimmen kann, so genial diese sein mag. Ein solcher aufnehmender Raum ohne Eigenschaften ist nicht psychischer oder introszendenter Natur, er ist nicht der Hegelsche Schacht, der nach innen führt, er gleicht nicht der hörenden Seele des Sokrates, er ist nicht eins mit Derridas wunderbarer Geduld gegenüber den Texten. Er ist ganz einfach der tote Raum der Grabkammer, der in der Moderne als Schau-Raum der Kunst und Kultur wiederbenutzt wird. Es ist der Raum, der die Erbärmlichkeiten des zerstreuten Lebens und die Prätentionen des Werdens unterbricht, um die Kontemplation zu ermöglichen. Indem er ihn immer wieder besucht und mit erstaunlicher Unermüdlichkeit neu beschreibt, samt den Objekten, die in ihm liegen, ist Groys, der philosophische Kommentator der Kunst der Gegenwart, der wirkliche letzte Metaphysiker. Als Metavitalist fragt er nach der Verwandlung des bloßen Lebens durch seine Verschiebung ins Archiv. Unter den Lesern Derridas ist er derjenige, der ihn ehrt, indem er die Wege der Nachahmung und der Exegese verläßt.
     
    Ich möchte diese Reihe von Dekontextuierungen und Rekontextuierungen des Derridaschen Werks mit einer persönlichen Notiz abschließen. Nie werde ich den Moment vergessen, als mich Raimund Fellinger, mein Lektor im Suhrkamp Verlag, bei meinem Besuch der Frankfurter Buchmesse im Oktober 2004 fragte: Du weißt, daß Derrida gestorben ist? Ich wußte es nicht. Mir war zumute, als ob ein Vorhang fiele. Der Lärm der Messehalle lag mit einem Mal in einer anderen Welt. Ich war allein mit dem Namen des Verstorbenen, allein mit einem Appell zur Treue, allein mit der Empfindung, die Welt sei plötzlich schwerer und ungerechter geworden, und mit dem Gefühl der Dankbarkeit für das, was dieser Mann gezeigt hatte. Was war das letztlich? Vielleicht dies, daß es noch möglich ist, zu bewundern, ohne wieder zum Kind zu werden. Sich als Objekt für Bewunderung anzubieten auf der Höhe des Wissens – ist das nicht das größte Geschenk, das die Intelligenz ihren Rezipienten und Partnern machen kann? Diese Dankbarkeit hat mich seither nicht mehr verlassen. Sie ist begleitet von der Vorstellung, daß die Grabkammer dieses Mannes an einen hohen Himmel rührt. Was ich seither entdeckt habe, ist das Glück, mit diesem Bild nicht allein zu sein.

    Dank
    An dieser Stelle möchte ich Daniel Bougnoux danken, der mir bei einer Begegnung in Villeneuve-les-Avignons von der Veranstaltung »Ein Tag Derrida« berichtete, die für den 21. November 2005 im Centre Pompidou in Paris vorgesehen war.
    Er schlug mir später vor, ich solle

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