Mein Frankreich (suhrkamp taschenbuch) (German Edition)
Transportierbarkeit ist ohne Zweifel in ihrer Leichtmachung durch die Verschriftlichung zu suchen. Doch mit diesem Beweis für die Idee, wonach sich nicht nur der Eine Gott, sondern auch das ägyptische Grabmal auf die Wanderschaft begibt, ist es nicht getan: Derrida geht an dieser Stelle das Wagnis ein, die Traumfabrik der Metaphysik überhaupt in einem Bild von extremem Pathos zu präsentieren. Hier liegt, wie er bemerkt, ein Rätsel vor, das verlangt, entziffert zu werden, nämlich: »Daß dieser Weg ... zirkulär verläuft und die Pyramide neuerlich zum Schacht wird, der sie wohl immer gewesen ist ...« 16 Woher weiß Derrida das? Worauf stützt sich seine Behauptung, es gebe einen Weg vom Schacht zur Pyramide und zurück? Auf die Annahme, die Metaphysik insgesamt, die nach Heidegger die Onto-Theologie heißt, sei selbst genau diesen Weg gegangen! Was war die Metaphysik denn anderes als die Fortführung des Pyramidenbaus mit den logischen und skripturalen Mitteln der Griechen und Deutschen? Mittels dieser Suggestion, die den Status eines luziden Phantasmas beanspruchen darf, deutet der Philosoph an, es existiere eine einzige Möglichkeit, die ansonsten undekonstruierbare Pyramide zu dekonstruieren – indem man sie den ganzen Weg zurücktransportiert, den sie auf den Pfaden der Schriftlichkeit durchlaufen hat, von Kairo nach Berlin via Jerusalem, Athen und Rom. Man muß sie nur so lange ent-entstellen, bis sie sich wieder in den Schacht verwandelt, der sie anfangs war: Dieser Schacht drückt die Tatsache aus, daß das menschliche Leben als solches immer schon Überleben ist. Von Grund auf besitzt es die Form der Erinnerung an sich selbst. Dasein im Augenblick heißt, sich bis hierher selbst überlebt haben. In jedem Moment, in dem es sich auf sich besinnt, steht das Leben an seinem Grab-Schacht, seiner selbst gedenkend – aus der Tiefe tönen die Stimmen des eigenen Gewesenseins. Wer dies versteht, begreift, was es heißt, das Gespenst des Pharao in die Sphäre der Brüderlichkeit zu integrieren. Man könnte sich Derrida gut als Besucher in Ägypten vorstellen, wo er im Gedanken an das ausradierte Grabmonument Amenophis’ IV . den Vers mon semblable, mon frère rezitierte.
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10 In: Jacques Derrida, Die différance. Ausgewählte Texte, Stuttgart 2004, S. 150-217.
11 Vgl. Jacques Derrida, Der Schacht und die Pyramide, a.a.O., S. 168.
12 Jacques Derrida, Chora, Wien 1990, S. 46.
13 Ibid., S. 56.
14 Ich vermag nicht zu beurteilen, ob und in welchem Maß Derrida sich der Ähnlichkeit zwischen seinem Verständnis der platonischen chora und den mittelalterlichen Theorien des tätigen Intellekts bewußt gewesen ist.
15 Jacques Derrida, Der Schacht und die Pyramide, a.a.O., S. 160f.
16 Ibid., S. 161.
7 Boris Groys und Derrida
Nach Hegels bekanntem Schema ist der Gang des Geistes durch die Geschichte dem Lauf der Sonne vom Orient zum Okzident nachgebildet. Er ist von der Erfolgsgeschichte der Freiheit untrennbar. Während im despotischen Orient nur einer frei war, brachte das aristokratisch-demokratische Griechenland die Freiheit einer Mehrzahl von Personen hervor, bis schließlich der christliche Westen einen Weltzustand erzeugte, der formal auf der Freiheit aller beruht. Man könnte diese Bewegung im Lichte der oben angestellten Überlegungen ein zweites Mal erzählen und dabei den Akzent auf die Politik der Unsterblichkeit setzen – woraus sich eine etwas veränderte Linie ergibt. In Ägypten war anfangs nur einer unsterblich – und seine Konservierung war höchster Staatszweck (obschon sich später Ansätze zur Popularisierung der Unsterblichkeit bemerkbar machen), in der griechisch-römischen und jüdischen Antike gab es Unsterblichkeit für niemand, in der christlichen Ära hingegen Unsterblichkeit für alle. In der Moderne wiederum trat eine Lage ein, in der offiziell zwar alle Menschen wieder sterblich sind, obwohl de facto die relative Unsterblichkeit für eine Mehrzahl von Personen erreichbar ist.
Ich möchte dieses Schema an den Anfang der Bemerkungen über das Werk von Boris Groys stellen, mit denen ich diese Reihe von Kontextuierungen des Phänomens Derrida abschließe – in der Überzeugung, es eigne sich ganz besonders dazu, die post-derridasche Situation zu beleuchten. Man kann das Œuvre von Boris Groys, soweit es sich bis heute überblicken läßt, wohl am besten als die radikalste aller möglichen Neu-Interpretationen des Phänomens Pyramide bezeichnen. Für Groys ist allerdings
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