Mein Frankreich (suhrkamp taschenbuch) (German Edition)
nie so sehr die Frage von Belang, wie man den Körper der Pyramide transportabel macht. Ihn interessiert allein der hot spot der Pyramide, die Grabkammer in ihrem Innern, in der die Mumie des Pharaos deponiert ist. Wenn es bei Groys ein Problem des Transports oder der Umstellung gibt, so bezieht es sich ausschließlich darauf, ob man die Kammer aus der Pyramide herausnehmen kann, um sie an anderer Stelle zu installieren. Die Antwort hierauf ist positiv und überraschend. Man wird, nach Groys, vom Kunstsystem der modernen Kultur nie etwas verstehen, wenn man nicht darauf achtet, wie die pharaonische Kammer in ihr wiederbenutzt wird. Die letzte Wohnung des Pharao bildet den Archetypus eines toten Raums, der anderswo zitiert und wieder aufgebaut werden kann – und zwar überall dort, wo Körper, auch nicht-pharaonische, zum Zweck der verewigenden Aufbewahrung deponiert werden sollen. Die Pyramidenkammer ist somit ebenfalls ein Objekt, das auf Reisen geschickt werden kann – sie landet mit Vorliebe in den Gegenden der modernen Welt, in denen die Menschen von der Idee besessen sind, Kunst- und Kulturgegenstände sollten um nahezu jeden Preis konserviert werden. Der tote Raum ägyptischen Stils wird demnach überall re-installiert, wo es Museen gibt, sofern diese nichts anderes sind als heterotopische Orte inmitten der modernen »Lebenswelt«, an denen ausgewählte Objekte mortifiziert, defunktionalisiert, dem profanen Gebrauch entrückt und der andächtigen Betrachtung angeboten werden.
Auch Groys, könnte man sagen, ist ein Denker, der aus einer josephischen Position operiert, sofern er, als postkommunistischer Emigrant jüdischer Herkunft, aus Rußland die Gabe der Marginalität mitbringt. Er leitet aus ihr jedoch keine Ambition ab, die Mitte zu erobern. Im Unterschied zu Derrida praktiziert er keine Traumdeutung im textuellen Zentrum der Macht mehr; er hat vielmehr das Geschäft der Traumdeutung durch das der Traumkuratierung ersetzt. Er ist davon überzeugt, daß die Träume der Alten wie der Heutigen keine neuen Interpreten brauchen – es gibt von ihnen mehr als genug. Die Träume der Reichsbewohner, ihre Texte, ihre Kunstwerke, ihre Abfälle, verlangen vielmehr nach originellen Sammlern und Kuratoren. Der Kurator der Träume hat es eo ipso mehr mit dem Körper der Traumobjekte als mit deren tieferen Sinn zu tun – in dieser Hinsicht knüpft er an Derridas ontosemiologischen Materialismus an. Aber er ist sich nicht sicher, ob er Derridas romantischen Tendenzen, seinem Flirt mit der Unendlichkeit und der absoluten Alterität, Kredit geben soll – er sieht in diesen Figuren eher professionelle Deformationen, die durch die ständige Beschäftigung mit den Fiktionen der Erleuchteten und Unsterblichen entstehen. Sogar Derridas Anspruch auf die Einsicht, wonach es keine Erleuchtung gibt, ist ihm noch zu sehr im Modus einer Erleuchtung formuliert. Im höchsten Maße ist Groys sich bewußt, daß Derrida, nach Freud, de Saussure, Wittgenstein und Heidegger, die Grenzen der Sprach- und Schriftphilosophie ausgemessen hat und somit ein Vollender war. Er hat daher keine Zweifel an der quasi-hegelschen Statur des Denkers – um so mehr ist er davon überzeugt, daß die Arbeit der Philosophie aus der jungderridianischen Position nur weitergeht, wenn ihre Träger die Richtung wechseln und etwas anderes tun.
Um die Richtungsänderung zu bezeichnen, die Groys im Après-Derrida vorschlägt, könnte man sagen: Wo Grammatologie war, soll Museologie werden – für letztere wäre der Name Archivtheorie einsetzbar. Groys ist der Feuerbach Derridas, zugleich jedoch auch schon sein Marx. So wie Feuerbach von Gott auf die wirklichen Menschen zurückkommt, geht Groys den Weg von Derridas Gespenstern zu den wirklichen Mumien. Und wie auf Hegel Denker vom Typus Kierkegaard und Marx folgen konnten, die den Existentialismus und die Kritik der politischen Ökonomie erfanden, so folgen auf Derrida einerseits die politische Ökonomie der heterotopen Sammlungen, anderseits die Allianz der Philosophie mit der erzählenden Literatur – für beides sind Beispiele bereits heute gegeben, zahlreiche andere Formen werden sich im Lauf des 21. Jahrhunderts entwickeln, mit oder ohne expliziten Bezug auf die Dekonstruktion und ihre Konsequenzen.
In welchem Sinn Groys sich zu Derrida verhält wie Marx zu Hegel, ist am besten am Begriff des Archivs zu erläutern, der im Denken beider Autoren eine Schlüsselrolle spielt. Für Derrida ist das
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