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Mein fremder Bruder

Mein fremder Bruder

Titel: Mein fremder Bruder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tahmima Anam
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regionalen Einheit. Alle Muslime sind Brüder, wiederholte er. Sie konnte es nicht mehr ertragen. Sie schaltete den Fernseher aus und ging ihre Mutter suchen, die in der Küche Parathas briet. Zwischen ihren von der Butter fettigen Händen klopfte Sufia vorsichtig die Teigscheiben flach.

    In der Abenddämmerung lief Maya barfuß von der Elephant Road zum Shahid Minar. Sie trat auf Zeitungen und Plastiktüten, fühlte zwischen den Zehen angenehm Sandkörner hindurchrieseln, doch auf dem heißen Asphalt mußte sie ihr Tempo verlangsamen, bis sie sich nur noch auf Zehenspitzen fortbewegte und kaum vorankam. Eine leichte Brise kitzelte sie unterm Kinn, sie hielt die Riemen ihrer Sandalen in der Hand und nickte lächelnd den kleinen Gruppen zu, die genau wie sie auf der Straße unterwegs waren.
    Während der ganzen Zeit der Freiheitsbewegung waren siebarfuß in rotweißen Saris von der Elephant Road zum Shahid Minar gelaufen und hatten sich den revolutionären Gruß zugerufen: Joy Bangla. Sieg Bangladesch .
    Heute war nur eine Handvoll Fußgänger auf der Straße, die sich langsam einen Weg durch den dichten Verkehr bahnten. Hinter ihnen wurde ungeduldig gehupt. An der Ecke Zia Sarani mußte Maya einen Bogen um eine zerbrochene Flasche schlagen und überlegte, ob sie die Sandalen wieder anziehen sollte. Der Gedanke ärgerte sie. Die Straße müßte gesperrt, der Bürgersteig gekehrt sein, und es müßten auch viel mehr Menschen kommen, Tausende, mit Kindern auf dem Rücken, die das Gefühl einte, daß sie einmal, vor vielen Jahren, etwas Bedeutsames vollbracht hatten.
    Sie sah einem Mann mit langen Haaren und Wollschal in die Augen. Der Mann schüttelte den Kopf, als wisse er, was sie gerade dachte, und wolle ihr bedeuten, es sich nicht so sehr zu Herzen zu nehmen.
    Doch sie wollte es nicht auf die leichte Schulter nehmen. Sie ließ die Wut in sich hochkochen und ballte die Hand um die Blumen, die sie im Garten gepflückt hatte. Warum waren Ammu und Sohail nicht mitgekommen? Warum, wenn sie doch jeden Augenblick der Revolution zusammen durchgestanden hatten, war sie jetzt ganz alleine hier, allein zwischen dem dunkelblauen Himmel und einer Straße voller Dreck?
    Das Denkmal wurde von Kerzen erleuchtet. Die breite Treppe führte hinauf zu drei schlanken Betonstreben, die grazil in die Höhe ragten. Die mittlere der fünf torartigen Betonstrukturen ragte vor, als wollte sie ihren Besuchern Schutz bieten. Eine große rote Papiersonne ging dahinter auf. Der Wind nahm zu, ließ die kleinen Kerzenflammen flackern und rüttelte an dem Weidenbaum, dessen Blätter zitterten und schließlich davonflogen.
    Das Shahid Minar war das erste gewesen, was die pakistanische Armee im Krieg zerstört hatte. Es war hinterher auch als erstes wieder aufgebaut worden, größer und breiter, aber Maya wünschte, sie hätten das Denkmal als Ruine stehenlassen: Jetzt,glänzend und frisch gestrichen, trug es keine Zeichen der überstandenen Kämpfe mehr.
    Maya setzte sich auf die oberste Treppenstufe, die Blumen auf dem Schoß, und sah den Leuten zu, die Blumen niederlegten oder mit gesenktem Kopf vor den Betonstreben knieten. Niemand sprach. In der Ecke eines der fünf eckigen Torbögen sah sie einen Mann leise weinen. Er wischte sich die Tränen ungeduldig mit dem Handrücken aus dem Gesicht. Dann wandte er den Kopf und sah sie geradewegs an. Er stand auf und streckte den Kopf vor, als versuche er, sie im letzten Licht zu erkennen. Sie sprang auf, die Blumen fielen ihr vom Schoß. Im nächsten Augenblick war er schon bei ihr.
    »Maya.«
    »Joy – bist du das?«
    Er hob ihre Blumen auf und hielt sie ihr hin, und die jetzt fast zehn Jahre alten Erinnerungen an ihn überwältigten sie. Joy. Der kleine Bruder von Sohails bestem Freund. Während des Krieges war er oft bei ihnen im Bungalow gewesen, weil er als Botenjunge für die Freiheitskämpfer gearbeitet und Ausrüstung ins Kampfgebiet und aus Indien über die Grenze geschafft hatte. Er hatte Bruder, Vater und ein Stück seiner rechten Hand im Krieg verloren. Außerdem hatte er früher einen Spitznamen für sie gehabt, wie hatte der nur gelautet?
    Sie sahen einander lange an. Er war größer, als sie ihn in Erinnerung hatte. Er trat auf sie zu, und sie wich unwillkürlich einen Schritt zurück. »Ich dachte, du bist in Amerika«, sagte sie, als sie an ihr letztes Zusammentreffen dachte, bei dem er ihr erzählt hatte, er würde nach New York gehen. Sie hatte es ihm übelgenommen, daß er ihrer

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