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Mein fremder Bruder

Mein fremder Bruder

Titel: Mein fremder Bruder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tahmima Anam
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die keine Schuhe?« fragte Zaid.
    »Die Krähe?« fragte Rehana.
    »Weil sie Krallen an den Füßen hat«, antwortete Maya. »Außerdem brauchen Vögel keine Schuhe, sie haben ja Flügel.« Du hättest bestimmt auch gern ein paar Flügel, dachte sie. Dann fragte sie: »Kannst du eigentlich das Alphabet?«
    »Alif, Ba, Ta, Tha«, murmelte er, während er ganz ins Kauen seines Rotis vertieft war.
    »Nein, nicht auf arabisch, auf bengalisch! Kennst du das Ko-Kho?«
    Er riß sich noch ein Stück Brot ab. »Nein.«
    »So viele Sprachen, und du kannst nicht mal dein eigenes Alphabet! Ich bring’s dir bei.«
    »Ich muß weg.« Er raste aus der Küche und machte dabei einen Satz über die Trockenfische, die ausgenommen mit glasigen Augen auf dem Boden ausgebreitet lagen.
    Zaid füllte seinen Wassereimer, und Maya half ihm, ihn die Treppe hochzuwuchten. Oben sah sie, daß heute Waschtag war, drei schwarze Burkas hingen auf der Leine, dazwischen wie eine Friedensfahne eine weiße Djellaba. Rehana hatte ihr verraten, daß die Frauen von oben ihre Unterwäsche nachts aufhängten und vor dem Fadschr-Gebet bei Tagesanbruch von der Leine nahmen. Das klappte jetzt in den heißen Frühjahrsnächten natürlich gut, war im Winter aber vermutlich nicht sehr effektiv. Ein ganzer Saal voll kalter Hinterteile – bei der Vorstellung mußte sie laut loslachen.
    »Komm morgen zu mir«, sagte sie zu Zaid, »dann lernen wir zusammen das Ko-Kho.«
    Er sah sie mit gerunzelten Brauen an.
    Als er sich am nächsten Tag immer noch weigerte, ihr die Buchstaben auf bengalisch nachzusprechen, sagte sie zu ihm:»Ich habe vorher in einem Dorf gewohnt, weißt du, und da kenne ich viele Jungen, die das Ko-Kho auch noch nicht können.«
    »Große Jungs wie ich?«
    »Noch viel größer.«
    Er war ständig in Bewegung, kratzte sich am Ohr, bohrte mit dem Finger erst im einen, dann im anderen Nasenloch, schlug mit der flachen Hand auf eine rote Ameisenstraße im Garten. »Ich will in die Schule gehen.«
    »Komm, versuch’s noch einmal«, forderte sie ihn ungeduldig auf. »Ko.«
    Er reagierte überhaupt nicht auf sie, sondern vernichtete systematisch eine Ameise nach der anderen mit dem Daumen.
    Sie versuchte es mit einer anderen Strategie. »Weißt du noch, die Krähe, die wir gestern gesehen haben?«
    »Mm-hm.« Daumen, drück, Daumen, drück. »Die ohne Schuhe?« Er fand eine Ameise, die über seinen Arm marschierte, und zerquetschte sie zwischen den Fingern.
    »Die ohne Schuhe. Willst du denn gar nicht wissen, wie man ›Krähe‹ buchstabiert? Dann kannst du ihr einen Brief schreiben und sie nach ihren Schuhen fragen.«
    »Krähen können keine Briefe lesen.«
    Sie gab sich geschlagen und ließ sich ins Gras fallen. »Du hast recht, ich geb’s ja zu.«
    »Ich will in die Schule gehen«, wiederholte er.
    Der Eimer war voll. Diesmal half sie ihm nicht beim Hochschleppen und tat so, als würde sie nicht die langen Minuten zählen, die er brauchte, um die Treppe hochzukommen, oder die dicken Platscher, die unterwegs herausschwappten und Flecken im Staub der Einfahrt bildeten.

    Sie spielten fast jeden Nachmittag Ludo. »Ich hab gesehen, daß du geschummelt hast«, sagte Maya eines Tages und hielt den roten Stein hoch. »Ammu, hast du das gerade gesehen, was er gemacht hat?«
    »Ja«, sagte Rehana. »Du hast eins zu weit gezogen, Beta.«
    »Da, deine Dadu hat’s auch gesehen.«
    »Von mir aus«, sagte er und verschränkte die Arme vor der Brust, »dann rück ihn halt eins zurück.«
    »Und was ist mit dem Alphabet?«
    Er schüttelte den Kopf. »Ich muß gehen.« Er hob das Ludo-Brett hoch und ließ die Ludo-Steinchen auf den Boden regnen.
    »Ma«, sagte Maya beim Aufheben der runden Steine, als er weg war, »ich wollte dich etwas fragen.«
    »Schieß los, Beta.«
    »Ich habe über Zaid nachgedacht. An dem Tag, weißt du, an dem wir zusammen zum Gemüsemann gegangen sind und er sich so seltsam verhalten hat. Und die Klauerei. Mir fällt nur eine Sache ein, die da Abhilfe schaffen könnte. Ich bin davon überzeugt, daß es funktionieren würde. Ich will ihn in der Schule anmelden.«
    Ammu nickte, als hätte sie nichts anderes erwartet. »Es stimmt, er redet öfter von der Schule.«
    »Ich habe einen Termin mit der Direktorin an der Schule ein Stück die Straße herunter vereinbart. Sie meint, er müßte eine Aufnahmeprüfung ablegen, und wenn er besteht, könnte er nächsten Januar anfangen.«
    Ammu klappte das Ludo-Brett zusammen und gab es an Maya weiter.

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